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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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eins.« Ich sah Vögler an und überlegte, ob wir Freunde waren oder nicht. Und ob es wirklich erforderlich war,
     die Nummer eins zu sein.
    Als er gegangen war, saß ich da und lauschte, vor allem in mich selbst. Das Siegesgefühl wurde für einen Moment leicht schal,
     als mir bewußt wurde, daß es außerhalb der Station niemanden gab, der sich mit mir freuen würde. Ich dachte an Liddy und sehnte
     mich zum zehntausendsten Mal nach ihr, danach, irgendwas von ihr zu hören. Sie würde verstehen, was dieser Moment, dieser
     Tag für mich bedeutete. Mir zuhören und mich schwärmen lassen. Und sich tatsächlich mitfreuen. Ich schüttelte den Kopf, trank
     meinen Jack aus und machte mich wieder an die Arbeit.

|141| 17. What’s The Frequency, Kenneth?
1994
    Alicia hockte vor dem Kühlschrank, ihr dichtes, lockiges, schwarzes Haar fiel nach vorne über die Schultern, während sie sich
     zum Obstfach beugte, um irgendwas aus den vollen Einkaufstüten da einzusortieren, Mango, Avocado, Obst und Gemüse mit O am
     Ende, das aß sie am liebsten. Oder mit I: Litschi. Scheißzeug.
    Sie hatte mich nicht gehört, ich hatte mich selbst nicht gehört, meine primäre Wahrnehmung war abgeschaltet, ich war völlig
     erfaßt von dem Schock, in den mich Vögler wie ficken gestoßen hatte. Zu allem Überfluß war der Taxifahrer, der mich nach Hause
     fuhr, ein Fan gewesen, wie viele, fast alle Taxifahrer: Als ich das Fahrziel nannte, erkannte er meine Stimme, sagte: »Wow,
Don FM
in meiner alten Karre. Cool. Sagen Sie mal was Lustiges.« Aber ich wiederholte nur mürrisch mein Ziel, was nicht
per se
zum Lachen war, obwohl am Marheinekeplatz viele lustige Dinge passieren, und er hielt die Klappe.
     
    Normalerweise hätte ich mich über sie gebeugt, ihren Brustkorb umfaßt, ihren Hals geküßt, diese Dinge – ambulanter Sex vor
     dem offenen Kühlschrank, Alicia mochte so was, und ich auch, mit ihr; wenigstens beim Sex hörte ich damit auf, sie pausenlos
     mit Liddy zu vergleichen, zu versuchen, Liddy in ihr zu sehen. Wovon sie nichts ahnte,
natürlich
. Sex mit Alicia war anders als das zaghafte, oft ungewollt lustige Herantasten, damals mit Liddy.
    Aber jetzt fühlte ich mich taub, leer wie eine Pfandflasche ohne Etikett, die zum Händler zurückgebracht wird. Die Konsequenzen
     des Nachmittags hatten mich erschlagen, als ich den Sender verließ, draußen vor der Tür stand und realisierte, daß ich wahrscheinlich
     nie wieder hindurchgehen |142| würde. Mir war bewußt geworden, daß es ein Abschied war, daß mein Traum ein jähes Ende gefunden hatte, obwohl
101.1 PowerRock Berlin
nicht unbedingt die Erfüllung meiner Wünsche dargestellt hatte. Aber ich war nahe dran gewesen. Und jetzt entfernter als je
     zuvor. Bei den öffentlich-rechtlichen war ich durch. So durch wie nur irgend möglich. Das Nest hatte ich verlassen, und es
     gab kein Zurück. War beim erfolgreichsten privaten Sender geflogen. Was blieb mir jetzt? Für etwas Eigenes fehlten mir die
     Möglichkeiten, es gab keine Frequenzen, und meine Power war in besagter Pfandflasche.
    Ich sagte kurz
Hi
, erntete einen fragenden Blick und ging in mein Zimmer. Mein Zimmer. Eine Art Kirche, ein geweihter Ort. Tausende von Aufklebern,
     Stickern, Buttons, Basecaps, Tassen, Aschenbechern, Feuerzeugen, all dieser Mist. Es kam mir so sinnlos vor in diesem Moment,
     albern, kindisch. Wozu dieses Zeug? Wem bedeutete es irgendwas, daß ich ein Radiojunkie war, jemand, dem es mehr als alles
     bedeutete, zwischen ein paar Platten reden zu dürfen, das Gefühl zu haben, gehört zu werden, zu den Menschen zu sprechen,
     sie an das Medium zu binden, das viele fatalerweise immer noch für ein
Sekundärmedium
hielten? Niemandem. Weg, vergessen. Gerade noch Radiogeschichte, jetzt nur noch Geschichte. In einem Jahr würde niemand mehr
     wissen, daß es mich einmal gegeben hatte.
    Ich saß da und starrte auf die XERF-AM-Aufkleber, die mir Vögler geschenkt hatte und die in einem Rahmen fixiert waren, der
     inmitten all des anderen Schrotts an der Wand hing, bedeutungslos, reine Psychose, der Versuch, etwas zu fixieren, das sich
     nicht fixieren ließ: Eine Idee, ein Wunsch, ein Traum, eine Besessenheit, die sich anderen nicht erklären, nicht vermitteln
     ließ, die für sie nur erahnbar wurde, wenn sie einen hörten, ob in einem kleinen gelben Transistorradio oder über den neuesten
     High-End-Tuner von
Bang & Olufsen
. Radiomann war man nur, wenn man Radio machte, und wenn man es nicht tat,

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