Radio Nights
einen riesigen ovalen Tresen herum, in dessen Mitte auf einem Podest der einpeitschende Discjockey mit der tollen
Stimme seinen Platz hatte.
Ich.
Der Job in der
Scheune
hatte zwei Vorteile. Erstens durfte ich saufen, soviel ich wollte und konnte – es kam richtig gut beim Publikum an, wenn der
DJ sich in einem ganz ähnlichen Zustand befand. Der zweite Vorteil bestand darin, daß ich jeden Abend praktisch genau das
gleiche tat, fast genau die gleichen Titel auflegte, an genau den gleichen Stellen zum Mitklatschen aufforderte oder die Fader
herunterzog, um das Publikum a cappella grölen zu lassen:
Marmor, Stein und Eisen bricht, Er gehört zu mir, Flieger, grüß mir die Sonne
, solche Sachen, plus aktuelle Charts, was anderes wollten die nicht hören. Mal was von den Ärzten,
Zu spät
oder
Du willst
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mich küssen
. Der tägliche Neujahrscountdown, das tägliche Abfeiern der Geburtstagskinder, dazu, immer gleich,
Happy Birthday
von Stevie Wonder. Mucke bis um fünf, bis auch die letzten gingen, begleitet von Musik, bei der ich schon kaum mehr wußte,
wie ich den CD-Player dazu gebracht hatte, das Stück zu starten. Taxi auf Abo, häufig der gleiche Taxifahrer, Marheinekeplatz,
in meine verwüstete Wohnung, schlafen bis zum frühen Abend, dann essen, praktischerweise gleich in der Erlebnisgastronomie:
Spareribs mit Ofenkartoffel oder Holzfällersteak mit Pommes. Dazu drei Bier, zum Warmwerden.
Ich tat das ununterbrochen, an sieben Tagen in der Woche, mal soff ich mehr, mal weniger, meistens mehr. Die Leute liebten
mich, weil ich genau das tat, was sie wollten. Daß der Laden so erstklassig lief, lag sicher auch an mir: Die
Scheune
befand sich in der Nähe des Ostbahnhofs, im Nirvana zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, und bis auf sehr, sehr üble Gardinenkneipen
gab es in der Gegend
nichts
. Die Leute fuhren ewig weit, um zu uns zu kommen, ließen sich vollaufen, als gäbe es kein Morgen, feierten wie die Blöden,
wie die Ballermänner, fickten auf dem Klo, in den Autos, prügelten sich vor der Tür, in den Waschräumen und ab und zu bei
uns am Tresen, das aber nie lange, dafür sorgten die Goliaths der hauseigenen Security. Wenn ich die üble, nachdenkliche Nüchternheit
am frühen Abend überwunden hatte, und insbesondere das fade, leere Gefühl zwischen Aufstehen und den ersten vier, fünf Bieren,
machte mir der Job sogar Spaß. Seit ein paar Monaten. Fünf oder sechs, vielleicht länger. Mein Zeitgefühl war solide im Eimer,
eigentlich war ich insgesamt solide im Eimer, aber das war okay, solange es Biere gab, Jack Daniel’s, ab und zu eine Ofenkartoffel
und Spareribs, und sonst
gar nichts
. Absolut nichts. Miles hatte seinen Laden dichtgemacht und war abgehauen, ein oder zwei Wochen nach Alicias Unfall; wir hatten
uns nicht mehr gesehen, er wollte nicht, ich konnte nicht. Lindsey und ein paar andere von der Station hatten mich noch |147| eine Weile malträtiert, Lindsey war stinkwütend, immer noch, wollte sich mit mir treffen, aber ich wollte nichts mehr von
all dem wissen. Hatte seit Monaten kein Radio mehr gehört, keine Platte mehr gekauft, kein Buch gelesen, keine Zeitung, nur
ab und zu ein paar Äpfel geholt, ein neues T-Shirt und eine neue Hose. Die Kohle, die ich in der Scheune verdiente, reichte
zum Leben, daß ich etwas auf der hohen Kante hatte, war mir völlig egal, es ging mir nur darum, mich zu betäuben, unter Leuten
zu sein, die mir
nichts
bedeuteten und nie im Leben etwas bedeuten würden, mich pausenlos abzulenken von Alicia, Veronika, Liddy,
101.1 PowerRock Berlin
, meinen zerstörten Träumen, meinem zerstörten Leben, an dessen endgültiger Vernichtung ich zielsicher arbeitete. Ich hatte
sogar Markmann angerufen, meinen ehemaligen Programmchef, zaghaft, ohne wirklichen Glauben daran, daß etwas passieren würde,
und eigentlich ohne wirkliches Interesse daran, daß etwas passieren könnte, und der hatte mich nur freundlich, aber bestimmt
in die Wüste geschickt, mir in ein paar Nebensätzen angedeutet, was für eine Frechheit es wäre, ihn
jetzt noch
anzurufen. Doch auch das blieb ein Randereignis. Entscheidend war, daß Vögler mich verkauft hatte. Verraten und verkauft.
Ausgelutscht und auf den Mond geschossen, auf den Müll gekippt.
Ich
hatte seine Scheiß-Nummer-eins-Station zu dem gemacht, was es war, und es hatte ihn nie wirklich interessiert. Flachgesichtige
Geschäftsmannsau. Es war ihm von Anfang an nicht um Radio
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