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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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war man nichts als eine Stimme, die anderen bekannt
     vorkam. Eine Zeitlang.
    |143| Alicia schaute hinein, schob ihr wunderbares, leicht kantiges Gesicht durch den Türspalt, vorsichtig, weil sie ahnte, daß
     irgendwas nicht stimmte, und weil immer Vorsicht angebracht war, wenn ich mich wortlos in mein Zimmer verzog. Bevor sie etwas
     sagen konnte, hörten wir beide das Klingeln des Telefons, sie drehte sich um und ging, kam ein paar Sekunden später mit dem
     Schnurlosen zurück. Lindsey war am Apparat und beschimpfte mich in einem Mix aus Deutsch und Collegeboyenglisch, nannte mich
     eine durchgefickte
deutsche
Hure, weil ich ihn mit viel Überredungskunst in die Station geholt hatte, die jetzt den Weg alles Irdischen gehen würde. Ich
     bekam nicht viel mit, und er hörte mir nicht zu; daß er allerdings der Meinung war, die Station würde vor die Hunde gehen,
     kam bei mir an. Ich legte auf, ohne groß zu antworten, hatte keine Kraft, was sollte ich dem armen Collegeboy auch erzählen?
     Daß ich genauso
gefickt
worden war wie er?
    Alicia sagte etwas von einem Termin, von dem ich sie später abholen sollte. Ich blieb ein paar Minuten sitzen, starrte Aufkleber
     und T-Shirts an, riß den Rahmen mit den Wolfman-Jack-Aufklebern von der Wand und schmiß ihn in den Papierkorb, und dann ging
     ich ins
Irish Heaven
.
     
    Der irischstämmige Vater meiner unerklärlicherweise schwarzhaarigen Freundin und Inhaber meiner Stammkneipe begrüßte mich
     mit einem skeptischen Augenbrauenhochzieher, stellte mir ein
Irish Red
hin, ohne weiter zu fragen, und dann noch vier, bis er vorsichtig zu bohren begann. Ich schüttelte den Kopf, kippte noch ein
     paar rote Biere, einen Jack Daniel’s, den er nur führte, um mir einen Gefallen zu tun, Bourbon in einer
irischen
Kneipe, das ist wie Apollinaris im Weihwasserbehälter; ich ignorierte einen Anruf von Alicia, was Miles in ziemliche Erregung
     versetzte, und trank einfach weiter. Einfach weitertrinken. Das funktioniert immer. Währenddessen. Klar, am Morgen danach.
     Am Mittag danach. Katzenjammer, Kater, Ekel, was auch immer. |144| Aber im Moment des Weitertrinkens ist es, als würde die Erde zur Scheibe werden: Alles wird glatt, gleichmäßig, überschaubar,
     relativiert sich, die Konturen verwischen, die Probleme werden diskutabel, und die Lösungen schweben an einem vorbei, als
     säße man mit geöffnetem Schnabel im Schlaraffenland. Ich saß da, saß einfach da, verlor die Beziehung zu mir, verlor den Frust
     über die Niederlage, die eine Hinrichtung war.
    Manchmal jedoch spielt einem die Realität einen üblen Streich. Dann bleibt solch ein Abend haften, verliert nie seine Chronologie,
     seine Präsenz. Verfolgt einen. Als die Bullen auftauchten, lachte ich noch. Bullen. Meine zweitbesten Hörer, nach Taxifahrern.
     Sie kamen herein, überblickten den Laden, und ich wußte sofort, daß sie nicht wegen einer Anwohnerbeschwerde hier waren, wegen
     eines dieser notorischen Nörgler, die in eine Gegend ziehen, in der es viele Kneipen gibt, und sich dann, ein paar Wochen
     später, alle halbe Stunde bei der Polizei darüber echauffieren, daß da erstaunlicherweise
Kneipen
in ihrer Wohngegend sind. Nein, die beiden Bullen gingen auf Miles zu, nahmen ihn beiseite, gingen mit ihm in die Küche. Ein
     paar Minuten später kamen sie wieder heraus, verschwanden. Etwas später kam auch Miles aus der Küche, keine Röte mehr im Gesicht,
     sondern nur noch kranken, zersetzenden Schmerz, und in diesem Moment wurde mir bewußt, daß mich ein zweiter Verlust ereilt
     hatte an diesem Tag.

|145| 18. Running On Empty
1995
    Die
Scheune
öffnete um sieben abends, die beiden Erlebnisrestaurants im Erdgeschoß sogar schon mittags, jeden Tag der Woche. Montags bis
     donnerstags war naturgemäß weniger los, aber erstaunlicherweise nie
wirklich
wenig: Es fanden sich immer genug Touristen, notgeile MX5-Fahrer, tumbe Blondinen, die auf MX5-Fahrer abonniert sind, Proleten
     aller Art und diese seltsamen, mittelalten Männer, die in den Ecken stehen und den ganzen Abend nur zusehen, wem auch immer
     bei was auch immer. Meistens tobte der Bär ab kurz vor neun, und um Mitternacht, wenn Neujahr gefeiert wurde in der
Scheune
– täglich –, brummte der Laden eigentlich immer: Über tausend Gäste, an Wochenenden fast zweitausend, auf drei Etagen in insgesamt
     fünf Diskotheken, zentrale Anlauf-und Baggerstelle aber war die höhlenähnliche Tanzkneipe in der ersten Etage, fünfhundert
     Menschen um

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