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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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gegangen.
Natürlich
nicht. War ich ein Idiot. Und dann das mit Alicia. Wahrscheinlich war’s in erster Linie das mit Alicia. Ich wußte es nicht
     genau, meine Gefühle waren indifferent, diffus, schwer einzuordnen, und irgendwann gab ich mir nicht mehr die Mühe, überließ
     mich dem tauben Bewußtsein, alles verkackt zu haben. Ich riß die Brücken ein, meldete mein Telefon ab, ließ die Post kompostieren,
     schmiß die Zettelchen ungelesen weg, die irgendwelche Leute noch eine Zeitlang an meine Tür klebten. Ich begrub mich, denn
     ohne meinen Traum war ich nichts mehr; |148| ausgespien vom größten Maul in der Berliner Radioszene, gab es keine Basis mehr, für nichts. Und irgendwie wollte ich auch
     nicht mehr. Vöglers wie
gefickt werden
waren überall, die sich kleine Träumer suchten wie den radioanarchistischen Collegeboy Lindsey, den quietschenden, dürren
     Hagelmacher oder mich, die dumme, kleine Radiohure, die nicht mitbekommt, daß sie gegen Kohle gefickt wird.
In den Arsch
.
     
    Immerhin bekam ich mit, daß es kurz vor Weihnachten sein mußte. Nein, nicht an den Auslagen der Geschäfte, die fingen schon
     im Oktober an, vielleicht wird es in ein paar Jahren zur Dauereinrichtung, pausenlos Weihnachtsdeko. Auch nicht am Wetter.
     Schmutziggrau war es in fast jedem Oktober. Nein, die Gäste in der
Scheune
begannen, Weihnachtsmannmützen zu tragen, wünschten sich
White Christmas
von Bing Crosby, wenigstens nicht in irgendeiner
neuen Version
, von denen es sicher Dutzende gab, und außerdem hatten die Besitzer einen großen Baum auf dem Parkplatz aufgestellt, das
     allerdings auch schon Wochen voraus.
    Weihnachten hatte mir nie etwas bedeutet. In meiner Familie war das Fest immer sehr tragisch verlaufen, ungemütlich, unfreundlich,
     gezwungen – meine Mutter dekorierte und stellte einen riesigen Baum auf, möglichst dicht am Fenster, hängte Lichterketten
     in die Kiefern vor dem Haus, aber sie tat das nur für die Nachbarn. Wir bekamen ein paar armselige Geschenke, teuer, aber
     armselig: Zeug, das wir nicht brauchten, das nicht uns, sondern die Nachbarskinder beeindrucken würde oder vielleicht diejenigen,
     die zusahen, während meine Eltern den Krempel kauften – herzlos, geistlos, ohne jede Empathie. Wir sagten jahrelang das gleiche
     Gedicht auf, meine Eltern hörten sowieso nicht zu, soffen Bier aus Dosen und sahen fern, während wir Würstchen mit Kartoffelsalat
     von
Pfennig’s
aßen, nicht einmal selbstgemachten.
    Das eine Weihnachten, das ich mit Alicia gefeiert hatte, war ganz anders gewesen. Es war wirklich mein erstes
richtiges
|149| Weihnachten, besinnlich, freundlich, warm, behaglich, rührend
schön
. Sie hatte sich irre große Mühe gegeben, gekocht und gebacken, geschmückt, gesungen und dekoriert, war tagelang völlig aus
     dem Häuschen, auf sehr nette Art. Ihr mußte das sehr viel bedeutet haben, und ein bißchen davon spürte ich auch, während wir
     nachts durch Berlin spazierten, aus den Hälsen dampften und ihre Aufregung kaum mehr zu bändigen war. Aber Alicia war tot,
     und ich legte jetzt für die baggernden Proleten
White Christmas
auf, ließ sie mitsingen, trug selbst eine Weihnachtsmannmütze und kämpfte auf dem Klo gegen Tränen. Es war nicht das Fest
     selbst, ich erlebte es ja nicht. Es gab meinem Verlustgefühl nur nochmals einen Schub, obwohl ich geglaubt hatte, daß das
     nicht mehr möglich wäre, war’s aber doch. Ich soff noch mehr als sonst und baute auch zum ersten Mal richtige Scheiße, legte
     die falschen Platten auf, würgte den Ton ab, redete Unsinn, goß Bier in einen CD-Player und solche Sachen. Die Leute an der
     Bar warfen mir seltsame Blicke zu, während sie schwitzend von einem zum anderen rannten, Biere ausschenkten und Schnäpse,
     die Troddel an ihren Weihnachtsmannmützen hüpften in einer wilden Orgie vor mir her, als wenn die sieben Zwerge durchgedreht
     wären. Es war wohl der zweiundzwanzigste Dezember. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es schlimmer kommen könnte – es war
     schlimm genug. Ausreichend schlimm. Zu allem Überfluß fühlte ich erstmals heftige, massive Selbstverachtung. Ich dachte über
     Selbstmord nach, während ich total alkoholisiert, aber auf seltsame Art wach im Taxi saß, und fand den Gedanken angenehm.
    Der Taxifahrer war ein Türke, das Taxi stank nach Erdbeere und Vanille, dank des pendelnden Wunderbaumes am Rückspiegel. Das
     Radio war eingeschaltet. Ich hörte erst nicht hin; die Taxifahrer, die mich

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