Radio Nights
sonst fuhren und bereits kannten, schalteten die
Geräte immer ab. Der Türke machte jetzt sogar ein bißchen lauter, weil irgendein Hit lief, den ich wahrscheinlich sogar in
der Nacht aufgelegt hatte, vielleicht |150| mehrmals, die Leute wünschten sich andauernd die gleichen paar Titel. Dann kam ein Jingle, Fünf-Uhr-Nachrichten.
101.1 PowerStation Berlin
. Ich kurbelte das Fenster herunter und kotzte in die kalte Nacht.
Es war ein bißchen schwierig, das Geld für das Taxi zu finden, und die Schlüssel für das Haus, oder das Loch für den Schlüssel;
meine Mut-und Lustlosigkeit hatte inzwischen ein Maß erreicht, das über das Alles-egal-Stadium weit hinausging. Ich kämpfte
ein paar Sekunden mit der Haustür, hatte innerlich schon beschlossen, gleich aufzugeben und in irgendeine Kneipe zu gehen,
einfach weiterzusaufen, so lange, bis mir jede Entscheidung abgenommen war. Der Schlüssel fiel mir herunter, blieb nur knapp
am Gitter des Rostes vor der Tür hängen. Ich hatte Mühe, ihn da herauszufuddeln, nahm das als Zeichen, jetzt definitiv umzudrehen,
ins
Pandemonia
zu wanken, oder auch an irgendeinen Bahnhofskiosk. Die Haustür öffnete sich, eine Frau Anfang, Mitte Dreißig stand da, verschlafenes
Gesicht, das mir irgendwie bekannt vorkam, ich starrte in grüne Augen, und dann war da plötzlich ein Gefühl, als würde mir
jemand Backpfeifen hauen, Dutzende davon, mein Gesicht wurde heiß, und ich spürte tatsächlich, daß ich zu zittern begann.
»Hi, Donald«, sagte Liddy. »Ich warte schon seit Stunden auf dich.«
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|151| Current
(Zweiter Teil)
1995
|153| 1. Time To Wonder Weihnachten
1995
Von dieser Nacht bekam ich nichts mehr mit, abgesehen von der Tatsache, daß da tatsächlich
Liddy
aufgetaucht war. Ein Gefühl von Behaglichkeit und Geborgenheit hatte mich erfaßt, in meiner maßlosen Besoffenheit, und ich
hatte mich dem einfach hingegeben; Liddy hat zwar noch etwas zu mir gesagt, mich vorsichtig umarmt, ich roch sicher nicht
besonders gut, und mich nach oben begleitet, und da war ich dann ins Bett gesunken, mitten in meiner Hölle von Wohnung, den
unsauberen Resten der Gemeinsamkeit mit Alicia, und auf der Stelle eingeschlafen, unfähig, nur noch ein einziges Wort zu sagen,
etwa: Danke.
Am Nachmittag erwachte ich, hörte fremde Geräusche, auch tief in meinem Kopf: Die Ladung war erheblich, ein paar Stunden Schlaf
reichten auch meinem inzwischen massiv alkoholgewöhnten Körper nicht, die Schäden zu beseitigen oder wenigstens zu begrenzen.
Die anderen Geräusche kamen von meinem Staubsauger, der Lautstärke nach weiter weg, vielleicht in meinem Radiozimmer, außerdem
blubberte meine Kaffeemaschine leise im Hintergrund, zwischendrin, wenn Liddy den Staubsauger rückwärts zog und das Gebläse
zu kämpfen hatte.
Liddy war da. Sie war
immer noch
da.
Warum nur?
Ich wollte aus dem Bett hüpfen, beließ es aber bei behäbigem Heraushangeln, abgestützt auf Bettkante und Nachttisch. Irgendwo
war ein Bademantel, normalerweise rannte ich nackt in meiner Wohnung herum, oder in meinen Boxershorts. Liddy hantierte mit
dem röhrenden Reinigungsgerät, dessen Staubtüte ich wahrscheinlich vor Jahren zuletzt ausgetauscht hatte, sie huschte hin
und her, zwischen meinen |154| Stickern, T-Shirts, Basecaps, Plakaten, Feuerzeugen, Aschenbechern. Sie trug ein langes T-Shirt, ich konnte ihre nackten Beine
sehen, betrachtete sie eine Weile. Dann ging ich duschen; sie bemerkte mich nicht, summte irgendeine Melodie. Als ich in die
Küche kam, saß sie am Tisch, zwei Kaffeetöpfe darauf, auf dem einen:
Radio people do it with frequency
. Ich griff nach dem anderen.
»Na du«, sagte sie. Liddy sah ein bißchen anders aus als in meiner Erinnerung. Sie mußte Anfang, Mitte Dreißig sein, um ihre
immer noch grüngrüngrünen Augen kleine Fältchen, ganz kleine, und in ihren Mundwinkeln auch. Ihr Gesicht wirkte fröhlicher,
gleichzeitig war viel darin zu lesen: Erlebtes, Geschichte, Vergangenheit, Schmerz, Hoffnung. Ihre schwarzen Haare waren noch
immer kurz. Eine wirklich schöne Frau, deutlich reifer jetzt, doch eigentlich war sie mir auch damals schon reichlich … weit
vorgekommen. Sie umschloß den Radio-Kaffeetopf mit ihren langen, schmalen Fingern, deren Nägel nicht lackiert waren. Ich dachte
an Alicias Finger, den kleinen Rest Orangenschale, damals, beim Inder. Ein paar Tränen kündigten sich an, kurz, heiß, aus
ganz verschiedenen
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