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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Gründen.
    »Na du«, gab ich zurück, schluckte trocken, überwand den Tränendrang, schlürfte vorsichtig den heißen Kaffee. War gut.
    »Ich hab’ mir Sorgen um dich gemacht«, sagte sie. Richtete sich ein bißchen auf in ihrem Stuhl, sah mich fest an. »Nicht,
     daß du glaubst, ich wäre hier, um die alten Zeiten aufleben zu lassen. Das ist es nicht.«
    »Nicht«, wiederholte ich leise und schlürfte weiter. Die Gründe, weshalb sie hier saß, waren mir fast völlig egal. Das Gefühl,
     das sie erzeugte, reichte mir.
    »Frank hat mich ausfindig gemacht, vor drei Monaten schon. Er erzählte mir, daß die Radiogeschichte wohl beendet wäre. Und
     daß er dich nicht mehr erreichen könnte. Kein Telefon, keine Antwort auf Briefe.«
    Ich nickte. »Telefon habe ich abgemeldet.«
    |155| »Und warum?«
    »Warum.« Ich setzte mich hin. »Warum.«
    Ich sah sie an. Da saß tatsächlich Liddy. Eine etwas veränderte Liddy, aber sie war’s wirklich. Zehn Jahre oder so. Wildkirschtee.
     Warum zur Hölle mußte ich immerzu an Wildkirschtee denken, wenn es um Liddy ging?
    »Hast du ein bißchen Zeit?« fragte ich.
    »Soviel du willst.«
     
    Ich erzählte bis zum frühen Abend, es wurde dunkel,
war
dann dunkel, meine Antrittszeit für die
Scheune
verstrich, und ich quatschte immer noch. Als ich schließlich im laufenden, gerade endenden Jahr angelangt war, wurde es ein
     bißchen schwierig. Ließ sich auf zwei Sätze zusammenfassen. Es tat sehr, sehr gut, einfach davon zu erzählen, von allem. Und
     Liddy dabei zu betrachten, die mir wie eine Reinkarnation vorkam, unwirklich, wunderbar, ein Segen, eine Wohltat. Die echte,
meine
Liddy, die jetzt ganz real und
in persona
vor mir saß. Die es immer noch gab, die existierte, auch außerhalb meiner versoffenen Erinnerungen.
    Sie sah mich an, lange, prüfend. »Nicht sehr schön«, sagte sie dann.
    Ich nickte langsam.
    »Ich fürchte, du verstehst mich falsch. Ich finde nicht sehr schön, wie
du
dich verhalten hast.«
    Ich zuckte die Schultern. Klar doch. Liddy hätte mich mit einer Baseballkeule verdreschen können, Hauptsache, ich konnte sie
     weiter anstarren.
    »Und jetzt?«
    Ich wiederholte das Schulterzucken. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Das war ein Euphemismus.
    »Warum bist du nicht aus Berlin weg, als es mit
PowerRock
zu Ende ging? Deutschland ist groß. Du sprichst gut Englisch, könntest sogar im Ausland arbeiten. Nie auf die Idee gekommen?«
    Nein, war ich nicht.
    |156| »Doch«, log ich. »Aber darum geht’s nicht.« Ich holte tief Luft. »Arschlöcher wie Vögler sind überall.
Wenn ich es hier nicht schaffe, schaffe ich es nirgendwo
«, Sinatra ließ grüßen. Das stimmte sogar, irgendwie: Berlin war die Meßlatte, alles darunter war
Pillepalle
. Hamburg? Sinnlos, das hatte eine total verwüstete Radiolandschaft. Ruhrgebiet? Zu häßlich, nur Dosenbiertrinker. München?
     Zu bayerisch. Spießig. Zu viele hippe Idioten. Stuttgart? Wo zur Hölle
lag
das eigentlich? Hannover? Dann lieber Selbstmord.
    »Lange nicht mehr so einen Blödsinn gehört.«
    Wieder zuckte ich die Schultern.
    »Du
hast
es doch hier geschafft. Ich verstehe dich nicht.«
    »Nein, ich habe es nicht wirklich geschafft. Ich bin benutzt worden. Ich war ein guter Radiomann, aber ich war nicht der Chef
     der Station, das war ein anderer, wahrscheinlich mehrere andere. Die genau wußten, was sie mit mir taten. Genaugenommen war
     ich ein kleiner Discjockey, wie alle anderen auch. Ich hatte nur ein paar Förmchen mehr im Sandkasten. Das war alles.«
    »Scheiße.« Damit meinte sie, was ich gesagt hatte, nicht, was ich gemeint hatte.
    Nach einer kleinen Pause sagte sie: »Du siehst ziemlich fertig aus.« Das stimmte. Mein letzter Spiegelcheck lag nur ein paar
     Minuten zurück. Fahles, eingefallenes Gesicht, Falten, unsauberer Stoppelbart, wäßrige Augen. »Wie wäre es mit Urlaub? Ausspannen?
     Andere Leute? Mal weg aus der Stadt?«
     
    Später am Abend saßen wir in einem Auto, einem kleinen Mitsuhondabushi oder so, schmutzig-silbern, auf der Rückbank ihre Reisetasche,
     daneben und im Kofferraum Klamotten von mir. Es war die Nacht auf den dreiundzwanzigsten Dezember, ich hockte auf dem Beifahrersitz,
     seit zwei oder drei Stunden schon, hatte große Lust auf eine Zigarette, auf ein Bier oder zwei. Lydia schwieg, konzentrierte
     sich auf die Fahrerei, die Baustellen auf der A9, wir waren auf dem Weg |157| nach Bayern, Franken, irgendein Nest, in dem sie jetzt lebte, viel Überredungskunst

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