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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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ein bißchen über den Schlag, den mir
I’m alive
versetzt hatte, und die Tatsache, daß sich Lydia offenbar noch daran erinnerte, welches Album ich ihr empfohlen hatte, damals,
     in einem ganz anderen Leben, lange vor dem ganzen Radiochaos, Veronikas Tod, Alicias Tod, meinem … Abgang. Ich stand wieder
     auf, ging zum Fenster, aber draußen war es uninteressant: eine Straße, ein paar flache Neubauten, dahinter ein Stück Dom,
     irgendwo. Marbrunn. Hatte ich noch nie von gehört, aber das galt für die meisten deutschen Städte mit unter vier Millionen
     Einwohnern.
    Ich schaltete eine kleine Lampe an. Neben dem Fernseher war eine Stereoanlage. Da lag ein Kopfhörer. Radio hören. Warum nicht
     Radio hören?
    Eine halbe Stunde daddelte ich durch die Frequenzen, ein paar bayernweite Sender fand ich gleich auf mehreren, dann blieb
     ich hängen, weil ein ganz lustiger, ziemlich schräg produzierter Jingle lief:
FunFun Radio Marbrunn
. E-Gitarre, dröhnendes Schlagzeug, und gesungen von einem Kirchenchor, |160| so hörte es sich jedenfalls an. Es gab also eine Radiostation in diesem Ort. Warum nicht? Bayern hatte die Nase vorn gehabt,
     was Privatfunk anbetrifft, lokale Sender waren
Konzept
von Anfang an, aber soweit ich wußte, schluckten die landesweiten Sender nach und nach alles, was sich langfristig nicht behaupten
     konnte.
FunFun Radio
. Ein bescheuerter Name.
    Ich hörte eine Weile zu, vielleicht eine Stunde, viel Musik, größtenteils Charts,
Currents
. Ein wackerer Moderator kämpfte damit, offensichtlich angetrunken bis um fünf durchzuhalten, redete ziemlich dusseliges Zeug,
     was ganz lustig war, teilweise. Ich war versucht, noch bis zur Morgensendung durchzuhalten, klappte aber irgendwann vorher
     einfach zusammen.
     
    »Ich habe oft an dich gedacht«, sagte Liddy beim Frühstück, gegen zwei oder so. »Sehr oft.«
    »Ich auch.«
    Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe dich nicht wirklich
vermißt
«, sagte sie, und bevor ich antworten konnte: »Wir hatten eine wunderschöne Zeit, meistens. Aber als wir uns getrennt hatten,
     war es für mich vorbei. Das mußte es sein.«
    Ich sah irgendwo hin.
    »Du warst meine erste große Liebe. Glaube ich. Es wäre vielleicht noch lange weitergegangen.« Ihre Stimme brach.
    Ich nickte, ohne sie anzublicken.
    Es wäre weitergegangen, wenn …
     
    Ihre Mama hatte noch sechs Jahre gelebt, und Liddy voll in Anspruch genommen. Dabei hatte sie sich langsam an den Ort gewöhnt,
     sich mit der Zeit sogar richtig in das Städtchen verliebt. Als dann die Mutter starb, war es keine Frage für sie gewesen,
     zu bleiben oder zu gehen. Die Brücken nach Berlin waren abgebrochen, von mir hatte sie ewig nichts gehört, und es hatte keinen
     Sinn, meinetwegen oder wegen der Sache |161| zurückzukehren, die wir mal gehabt hatten – damit hatte sie abgeschlossen. In dieser Hinsicht waren unsere Gedanken ganz ähnlich,
     glaubte ich: Von der Furcht geprägt, die schöne Erinnerung zu zerstören für eine ungewisse Zukunft in einer Freundschaft,
     die nur aus Vergangenheit bestand. Genaugenommen war ich zu Gedanken, die sich mit dieser Frage befaßten, überhaupt nicht
     fähig.
    Es hatte sie nicht mehr gehalten, als Frank sie erreicht hatte, Frank, den sie nur aus Erzählungen kannte und der in den alten
Your
Sound
-Unterlagen irgendwie einen Hinweis gefunden hatte. Er wäre selbst nach Berlin gekommen, erzählte sie. Aber es ging zur Zeit
     nicht. Produktion rund um die Uhr.
     
    Wir gingen in die Stadt – das, was man landläufig so
Stadt
nennt. Der Kern von Marbrunn war ewig alt, tausendfünfhundert Jahre oder so, ein hübsches Altstädtchen, um einen Hügel herum,
     auf dem ein Dom stand und ein Kloster oder etwas in der Art, alles sehr beschaulich an einem ruhigen Winternachmittag, dazu
     passend eine dichte Schneedecke, wie im Film. Ich war ein bißchen underdressed, wir kauften mir eine dicke, gefütterte Wildlederjacke,
     wobei mir einfiel, daß es wahrscheinlich passend wäre, Liddy ein Weihnachtsgeschenk zu besorgen. Sie hatte zu tun, wollte
     noch irgendwo hin, gab mir einen Wohnungsschlüssel. Also wanderte ich alleine durch die kleine Stadt, fand auf Anhieb die
     Fußgängerzone. Gleich an der ersten Straßenecke stolperte ich über das gläserne Studio von
FunFun Radio
.
     
    Keine Ahnung, wie lange ich da stand oder was ich dachte, es war sicher eine Menge Zeug, frustrierte Erinnerungen, gelebte
     Melancholie, Träumerei. Der Traum war noch da. Aber gleichzeitig

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