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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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hatte sie nicht aufwenden müssen, um mich
     zum Mitkommen zu bewegen, wenigstens für ein paar Tage. Das Hauptargument war:
Warum nicht?
Ich wußte zwar immer noch nicht, was eigentlich passierte, warum Liddy sich plötzlich um mich kümmerte. Aber sie war da, und
     das war das zweite Hauptargument. Was es auch zu bedeuten hatte.
    Das Radio begann zu knattern, wir verließen den Sendebereich des öffentlich-rechtlichen, unter Brücken wurde der Ton wegen
     der Reflexion etwas besser, nahm danach aber stetig ab. Ich schraubte an den Knöpfen des ziemlich veralteten Empfängers, landete
     kurz auf einem Sender, der gerade einen
Megahit
spielte,
das Beste von heute, Blablabla;
Liddy begann sofort, zu summen, und ich drehte am Rad.
    »Ach, laß das doch. Finde ich gut.«
    »Top-40-Scheiße«, grunzte ich, drehte aber zurück.
    Liddy summte sofort wieder.
     
    War es
das
? Liddy konzentrierte sich weiter auf die Fahrerei, freute sich über das Liedchen, würde vielleicht der nächsten Moderation
     überhaupt nicht zuhören, die Augenbrauen unbewußt hochziehen, wenn dann ein Stück käme, das ihr nicht gefällt, um beim übernächsten
     wieder zu summen. Sekundärmedium. Radio als reiner Klangteppich, wie Duft in der Luft, wie Grün am Horizont, Sonnenschein.
     Fahrstuhlmusik. Aufmerksamkeit einmal die Stunde für fünf Minuten Nachrichten, ansonsten unbewußtes Konsumieren. Warum wollte
     ich unbedingt, daß die Leute ihren Radios
zuhörten
? Weil
ich
es tat, getan hatte, schon immer. Aber ich war ich, und die meisten waren anders.
    Warum hörten die Leute Radio? Nur wegen der Musik?
    »Warum hörst du Radio?« fragte ich Liddy.
    Sie sah kurz zu mir rüber, ich konnte im Halbdunkel ihre Augen kurz sehen, dann zurück auf die Fahrbahn.
    »Ich weiß nicht. Wegen der Musik?«
    |158| »Aha.«
    »Ja, ich glaube schon.«
    »Hörst du manchmal richtig hin? Wenn etwas gesagt wird, so zwischen den Songs?«
    »Klar. Bei den Nachrichten. Und wenn Gewinnspiele laufen. Aber ich rufe nie an, weil ich Angst habe.« Sie kicherte fröhlich.
    »War das schon immer so?«
    Sie schwieg einen Moment.
    »Nein, natürlich nicht. Früher habe ich richtig zugehört, auch mal das Radio extra eingeschaltet, weil ich wußte, daß irgendwas
     kommt, das mich interessiert. Zum Beispiel Live-Konzerte und so.«
    Sie pausierte kurz, und ich wollte schon antworten, da sagte sie: »Vor ein paar Wochen lief ein Jackson-Browne-Konzert auf
Bayern 3
, das habe ich mir angehört, ganz in Ruhe. Der hat letztes oder vorletztes Jahr eine neue Platte gemacht, wußtest du das?«
    Da war was in meiner Erinnerung – oder doch nicht? Singer-Songwriter gehörten nicht zur Musikfarbe von PowerRock. Sollte ich
     das wirklich verpaßt haben?
    » I’m alive
heißt die«, erklärte Liddy.
    »Aha.«
    Und plötzlich mußte ich weinen, ziemlich heftig sogar, ohne genau zu wissen, warum in diesem Moment, und sagte eine ganze
     Weile nichts mehr. Ließ es einfach laufen.
     
    Weil es immer noch stockfinster war, als wir nach Marbrunn hineinfuhren, sah ich nur wenig. Liddy wohnte am Ortsrand, soweit
     ich das mitbekam, ich sah eine angestrahlte Kuppel, also eine Art Dom oder so was. Es lag dick Schnee, war sehr ruhig, in
     den Straßen nichts los – kein Wunder um vier Uhr morgens. Liddy hatte eine kleine 2-Zimmer-Neubauwohnung in einem dreistöckigen
     Haus, behaglich, aber übersichtlich, wir tranken noch einen Tee
( keinen
Wildkirschtee, sondern grünen, der seltsam schmeckte, nicht so richtig |159| nach Tee), und sie baute mir ein Bett im Wohnzimmer, auf dem ausklappbaren Sofa.
    »Schlaf dich erst mal rund«, sagte sie. Und: »Morgen ist Weihnachten.« Sie lächelte mich an, hauchte mir einen Kuß auf die
     Wange. Meine Wahrnehmung hatte sich seit der gestrigen Nacht verbessert, ich
roch
sie, das war wie ein Stoß von der Klippe, wenn einen jemand von hinten schubst, gruselig und gleichzeitig eigentlich genau
     das, was man sowieso tun wollte. Meine Nackenhaare stellten sich auf, ich grinste blöd, sagte »Gute Nacht«, aber da war sie
     schon dabei, die Schlafzimmertür hinter sich zuzuziehen.
    Dann lag ich da. Ich sah die Leuchtzifferanzeige eines Videorecorders, leicht gelblichgrauen Lichtschimmer von draußen, dicke
     Schneewolken, ein paar verschwimmende Konturen.
    Was tat ich hier? Keine Ahnung. Ich hatte auch nicht mehr gewußt, was ich in Berlin tat, es war also egal, wo ich war, solange
     ich nicht wußte,
warum
. Aber ich konnte nicht einschlafen. Ich grübelte

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