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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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geschafft hast, daß Du wieder auf die Beine gekommen bist, daß Du sogar mit Deinem eigenen Sender
     Erfolge feiern kannst. Das ist sicher ein sehr schönes Gefühl, ich wollte, ich könnte das nachempfinden, aber mir ist meine
     Empathie anscheinend abhanden gekommen. Denn ich fühle überhaupt nichts mehr, ich weiß nicht, was ich fühlen sollte, ich bin
     leer, ausgelaugt. Auch durch unerfüllte Erwartungen. Das ist kein Vorwurf, bitte versteh mich nicht falsch! Erwartungen werden
     zwar geweckt, von anderen, von einem selbst, aber man muß sich ja auch darauf
einlassen
.
    Möglicherweise lag Deine letzte – mir fällt kein vernünftiges, passendes Wort ein – »Beziehung« noch nicht lange genug zurück,
     möglicherweise bedeutet Dir Radio einfach so viel mehr, daß für richtige Freunde oder gar Liebe kein Platz in Deinem Leben
     ist. Der Gedanke tut mir weh. Vielleicht, und der Gedanke wieder ist tröstlich, hast Du so viel verloren, daß einfach noch
     mehr Zeit nötig ist, viel mehr Zeit, bis Du Dich wieder auf jemanden »einlassen« kannst. Ich habe den Eindruck, daß Du solche
     Gedanken einfach verdrängst.
    Ich weiß nicht, was ich tun soll, und ich kann nicht in Deiner Nähe leben, ohne etwas in mir pausenlos unterdrücken zu müssen.
     Ich habe Dich beobachtet, Deine mitreißende Art, dieses selbstbewußte Steuern und Anleiten von Leuten, die Dich bewundern,
     an Deinen Lippen hängen, Dich lieben –
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der kleine Hagelmacher, zum Beispiel, Kranitz und die Jungs, und Lindsey, natürlich. Denen gibst Du so viel, machst Deinen
     Erfolg zu ihrem, ohne etwas einzufordern. Das ist schön und bewundernswert, ich liebe Dich dafür, und nicht nur dafür.
    Ich erinnere mich, daß ich zu Dir gesagt habe, es ginge mir nicht darum, die alten Zeiten aufleben zu lassen. Erinnerst
Du
Dich? Das war, als ich Dich in Berlin abgeholt habe. Nein, ich wollte die alten Zeiten nicht wieder aufleben lassen. Höchstens
     etwas völlig Neues beginnen, das wurde mir später klar, als ich merkte, wie viel von dem Gefühl für Dich noch immer in mir
     war und wieder wuchs. Du hast mir deutlich gezeigt, daß Du daran kein Interesse hast. Ich will mir den Schmerz ersparen; ich
     bin eine recht gute Journalistin und werde sicherlich irgendwo etwas finden, und vielleicht mache ich erst mal etwas ganz
     anderes.
    Dir und Deinen Leuten wünsche ich viel, viel Glück; ich drücke Euch ganz fest die Daumen.
    In Liebe,
    Lydia
     
    Ich hielt diesen merkwürdigen Brief in den Händen; Liddy hatte ihn an der Hotelrezeption für mich hinterlegt. Meine erste
     Reaktion war Wut. Zorn. Verdammt, warum hatte sie nichts gesagt? Einfach abhauen, einen blöden Brief schreiben und mich mit
     dem Ding in Händen dastehen lassen.
    Dann wurde ich traurig.
    Und dann nachdenklich.
    Ich war ganz sicher, daß ich Liddy liebte, aber ich war völlig unsicher, auf welche
Art
, hatte diese Gedanken nie zu Ende gedacht. Mir war die Möglichkeit genommen worden, mich von Alicia zu verabschieden, das
     Gefühl, wenn ich an sie dachte, war noch immer eine Art tauber Schmerz, maßloser Verlust – und Liddy war über die Jahre hinweg
     so präsent, ein so plastischer Bestandteil meines Lebens, meiner Vergangenheit gewesen, daß es mir schwerfiel, sie als lebendige, |216| veränderte Figur wieder in mein Jetztleben einzubauen. Und außerdem hatte ich schlicht nicht die leiseste Ahnung gehabt.
    Oder doch?
    Ich war verwirrt, bekam diesen Brief und die Tatsache, daß sie abermals aus meinem Leben verschwunden war, nicht auf die Reihe.
     Das Problem, darüber weiter nachzudenken und irgendwie eine Lösung zu finden, wenigstens für mich selbst, stellte sich allerdings
     nur für ein paar Minuten. Ich ging kurz auf mein Zimmer, duschte, las beim Haarefönen noch ein paarmal den seltsamen, spröden,
     irgendwie hakeligen Brief und machte mich auf den Weg in den Sender.
     
    Ich kam nur zwei Ecken weiter. In Marbrunn war nachts auf den Straßen nicht allzu viel los, euphemistisch gesagt, wochentags
     schlicht und ergreifend tote Hose, mit Ausnahme der drei Kneipen, da tobte immer der Bär. Oder die Kuh; ich war ja auf dem
     Land.
    Das gab mir normalerweise Zeit, den kleinen Spaziergang zur Station zum Nachdenken zu nutzen, in Ruhe noch ein paar Zigaretten
     zu rauchen – inzwischen war Frühling, fast Frühsommer, und da schmeckte das Draußenrauchen halbwegs – und mir ein paar Sprüche
     für die Sendung auszudenken.
    Plötzlich knallte etwas gegen meinen Kopf,

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