Radioactive -Die Verstossenen
überraschen dürfte. Vorsichtig und zaghaft lege ich meine Arme um seinen Hals und drücke mein Gesicht gegen seine Schulter. Für einen kurzen Moment erstarrt er und weiß mit meiner Nähe nicht umzugehen, doch dann legen sich seine Hände sanft auf meinen Rücken. Ich atme seinen zarten Duft nach Sommerregen, Nebel und Moos tief ein. Der Geruch erinnert mich immer wieder an meine Flucht durch den Wald. Ich hatte solche Angst und habe mich so verloren gefühlt, trotzdem wird mir warm , wenn ich daran denke, wie ich in seine Augen geblickt habe, nachdem er mich zu Boden geworfen hatte. Sein ganzes Gesicht hat mir Hass und Verachtung entgegen geschrien und trotzdem hat mich der Blick in seine Augen beruhigt.
Zögernd lösen wir uns voneinander. „Vielleicht haben die Menschen irgendwann eine Wahl. Wir wollen, dass sie eine Wahl haben , und da sind wir nicht die Einzigen.“
„Wie meinst du das?“
„Es gibt so viele Rebellen, wie es Legionen und Sicherheitszonen gibt. Es liegt in der Natur des Menschen , sich gegen Ungerechtigkeit aufzulehnen. Die Rebellen sind überall. Nicht nur hier in den Höhlen, sondern auch in anderen Gebieten.“
„Woher weißt du das alles? Wie haltet ihr mit den anderen Rebellen Kontakt?“
„Es gibt einen Schwarzmarkt. Dort treffen wir uns mit anderen freien Menschen und organisieren den Widerstand.“
„Die Legionsführer haben immer gesagt, dass wir die letzten Überlebenden wären. Haben sie keinen Kontakt zu den anderen Legionen?“
Anstatt einer Antwort hebt Finn nur zweifelnd die linke Augenbraue.
„Okay, kapiert.“ Abwehrend hebe ich die Hände. Also noch eine Lüge. „Die Legion hat Laserwaffen, Flugschiffe und Fahrzeuge. Wie wollt ihr gegen sie ankommen?“
„Jedes noch so große Ziel beginnt mit einem ersten Schritt.“ Finn verschränkt erneut seine Finger mit meinen. Ich mag es, wenn er mich berührt. „Ich möchte, dass du beim nächsten Treffen dabei bist.“
Er blickt mir tief in die Augen, wobei sein Gesicht nur vom Mondlicht und den Sternen erhellt wird. „Du solltest vorbereitet sein, wenn du zurück in die Legion gehst.“
Seine Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht und holen mich zurück in die Realität. Es geht ihm nicht um mich. Er will mich nicht an seiner Seite haben, es geht ihm nur um den Erfolg der Mission. Ich bin ein Projekt für ihn. Ein weiterer Spitzel der Rebellen.
„Wir setzen unseren gesamten Glauben in dich. Du bist unser Schlüssel, unsere Hoffnung.“
So lieb und nett seine Worte sich auch anhören mögen, erreichen sie nicht mein Innerstes. Es sind leere Floskeln, die mich an einen Ort schicken, an dem mir vielleicht der Tod droht. Ich wünschte , er würde mich bitten , nicht zurückzugehen. Ich wünschte , er würde mich bitten , bei ihm zu bleiben.
Schwer und grau hängen die Wolken am Himmel. Die Luft ist erfüllt von dem unvergleichlichen Geruch nach Regen. Das Grollen eines kommenden Gewitters ist bereits zu hören. Doch außer mir scheint es niemand zu bemerken oder sich daran zu stören. Bereits am letzten Abend begannen sie mit den Vorbereitungen für den „großen Tag“, nur um damit heute noch vor Sonnenaufgang fortzufahren.
Während die Zwillinge die Fahrt zum Schwarzmarkt als ein lustiges Ereignis ansehen, scheint Finn mit den Nerven völlig am Ende zu sein. Er ist nun noch reizbarer als sonst und blafft jeden an, der ihm im Weg steht oder ihm eine Frage stellt, auf die er keine Antwort weiß. Gustav, der das ganze Unternehmen leitet, ist hingegen die Ruhe in Person. Er pfeift vergnügt vor sich hin, während er eine Tasse frisch aufgebrühten Pfefferminztee schlürft, so als würde sich dieser Tag kaum von jedem anderen unterscheiden. Ich selbst sehe dem Ausflug mit gemischten Gefühlen entgegen. Auf der einen Seite konnte ich es die ganze letzte Zeit kaum erwarten, endlich mehr herauszufinden und somit der Wahrheit ein Stückchen näher zu kommen. Auf der anderen Seite läutet der Besuch beim Schwarzmarkt meinen Abschied ein. Die Rebellen fahren dort nicht nur zum gegenseitigen Austausch hin, sondern auch um meinen Einsatz in der Legion zu planen. Sobald dies passiert ist, gibt es für mich keinen Grund mehr , länger hier zu bleiben. Während ich mich noch vor Monaten so sehr nach meiner Rückkehr in die Sicherheitszone sehnte, dass es fast körperlich weh tat, empfinde ich nun bei dem Gedanken daran eine seltsame Leere. Die Legionsführer haben mich mein Leben lang belogen. Wie soll ich ihnen je wieder
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