Radioactive -Die Verstossenen
meinem alten Leben nicht mehr zurecht finden werde. Ich glaube nicht, dass ich wieder jeden Tag zu einer vorgeschriebenen Zeit aufstehen, dasselbe Essen zu mir nehmen, arbeiten und abends schlafen könnte. Dabei würde ich mich leer fühlen. Am meisten würden mir die Gespräche mit anderen Menschen fehlen. Gespräche, die weder einen Sinn noch einen Nutzen haben, sondern die man einfach um des Kommunikationswillens führt. So etwas gibt es in der Sicherheitszone nicht. Alles erfüllt einen Zweck.
„Psssst“, zischt es leise in unser Zimmer. Zeitgleich mit Dumbo hebe ich den Kopf und erkenne Finn nur an seinem gewellten Haarschopf. Seine Silhouette hebt sich vor unserem rosa Vorhang ab.
Dumbo lässt sein Köpfchen wieder auf seine Vorderpfoten sinken. Er scheint der Meinung zu sein, dass von Finn keine Gefahr ausgeht. Ich bin mir da nicht so sicher. Was will er denn mitten in der Nacht?
„Cleo? Schläfst du?“
Mein Herz beginnt wild zu klopfen, wobei sich ein dämliches Grinsen auf mein Gesicht stiehlt . Mir wird wohlig warm und eine Gänsehaut zieht sich , beginnend in meinem Nacken , die gesamte Wirbelsäule hinab. Es ist so schön , ihn meinen Namen sagen zu hören. Der Name, den sie mir erst vor wenigen Wochen gegeben haben, der aber schon so fest zu mir gehört, als wäre er schon immer Mein gewesen.
Vorsichtig schlage ich die Bettdecke zurück und tapse ihm barfuß entgegen. Als ich den Vorhang zurückschlage, wirkt er fast erschrocken.
„Was ist los?“
„Komm mit, ich will dir was zeigen.“
Meine alten Zweifel kehren zurück und ich beginne misstrauisch sein Gesicht zu mustern. Es erscheint mir eigenartig , dass er mir ausgerechnet nachts, wenn niemand etwas mitbekommt, etwas zeigen möchte. Vielleicht spielt er nur mit mir. Nur weil er mich am See nicht ertränkt hat, bedeutet es nicht, dass er mein Freund ist.
Finn scheint meine Sorgen zu spüren, denn sein neutraler Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein freundliches Lächeln.
„Vertrau mir.“
Seine sanfte, aber zugleich raue Stimme lässt mich erneut erschauern. Ich wünschte , er würde mehr reden, denn ich könnte ihm stundenlang einfach nur zuhören. Dabei wäre es auch vollkommen egal, was er sagen würde. Hätte er jetzt ‚Ich will dich von einer Klippe stoßen’ gesagt, wäre ich ihm wahrscheinlich auch gefolgt.
Schnell schlüpfe ich in meine Stiefel und eile durch den schmalen Gang mit den verschiedenen Schlafkammern. Aus der vorletzten dringt der schwache Schein einer flackernden Kerze. Es ist das Zimmer von Florance und Paul. Als ich daran vorbei gehe, höre ich leise Florances glockengleiches Kichern, gemischt mit Pauls brummendem Grunzen. Sie haben sich tatsächlich wieder vertragen.
Beim Ausgang der Höhlen wartet Finn bereits auf mich. Sein honigfarbenes Haar hebt sich leuchtend von seiner schwarzen Kleidung ab.
„Sie haben sich vertragen.“, sage ich glücklich. „War es das , was du mir zeigen wolltest?“
Er runzelt die Stirn. „Ist dir das so wichtig, dass du deshalb nachts geweckt werden wollen würdest?“
Obwohl alle Rebellen in nur fünf Minuten mehr Gefühle zeigen als die Menschen in der Sicherheitszone in einer ganzen Woche, erscheint mir Finn in solchen Momenten sehr kalt. Paul ist sein Freund und trotzdem interessiert es ihn kaum. Warum kann er sich nicht für ihn freuen?
„Ich freue mich für sie“, antworte ich beharrlich und recke ihm trotzig mein Kinn entgegen.
Finn beginnt zu grinsen. „Du benimmst dich schon fast wie Zoe. Kein Wunder, dass ihr euch auf Anhieb verstanden habt. Sie hat sich immer nach einer Freundin gesehnt.“
Mein Ärger ist augenblicklich verschwunden. Es ehrt mich sehr, dass ich ihn an seine Schwester erinnere, die er so sehr vermisst. Aber ich bezweifle, dass ich der mutigen und furchtlosen Zoe gerecht werde. Sie hätte sich niemals von ihm in der Art beschimpfen und beleidigen lassen, wie er es so lange bei mir getan hat.
„Was wolltest du mir denn nun zeigen?“
Anstatt mir zu antworten, hält er mir seine rechte Hand entgegen. Offen und ausgestreckt. Unsicher blicke ich noch einmal prüfend in sein Gesicht. Auffordernd nickt er mir entgegen. Er meint es ernst.
Als ich meine Hand in seine warme Handfläche lege, fährt ein Kribbeln durch meinen gesamten Körper. Seine Haut ist rau und voller Schwielen, dagegen ist meine zwar weich, aber dafür schwitzig und bleich. Aber das stört ihn nicht, er schließt seine Finger nur noch fester um die meinen.
Gemeinsam
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