Raecher des Herzens
den Grafen wusste. Danach wollte Ihr Bruder unbedingt mit dem Grafen und dann vielleicht auch mit Rio sprechen. Ich fürchtete um seine Sicherheit und hoffte, ihn schützen zu können. Dafür musste ich natürlich die Nähe des Grafen suchen und ihn bei Laune halten.«
Der Graf schnaubte und prustete. In seinen Mundwinkeln sammelten sich Speichelfetzen. »Diese Höllenhunde stecken alle unter einer Decke. Hurensöhne sind sie allesamt, die lügen, wenn sie das Maul aufmachen!«
»Das ist nicht wahr«, meldete sich Tante Marie Rose aufgeregt zu Wort. »Schon die ganze Zeit will ich sagen, dass meine liebe Freundin Madame Calve beinahe die Besinnung verlor, als sie Monsieur de Silva kürzlich abends im Garten eines Hauses erblickte. Sie sah ihn nur kurz, am Rande einer Abendunterhaltung. Aber ihr war, als sei ihr der Geist jenes galanten Kavaliers begegnet, der ihr als junges Mädchen in Barcelona den Hof gemacht hatte. Monsieur de Silva ist einem gewissen Don Antonio Jose de Vega, dem damaligen Grafen de Lerida, wie aus dem Gesicht geschnitten. Vielleicht ist er ein wenig größer und hat etwas hellere Augen, aber sonst gleicht er ihm aufs Haar. Meine Freundin war zutiefst berührt, denn einst hatte sie gehofft, Don Antonios Frau zu werden. Noch heute bewahrt sie diese große, unglückliche Liebe in ihrem Herzen. Und sie hat mir etwas gegeben. Sie wollte, dass ich das Geschenk ihres Geliebten demjenigen zukommen lasse, dem es eher zusteht als ihr. Dafür erbittet sie sich lediglich, dass Monsieur de Silva sie einmal besuchen kommt. Gern würde sie bei Tageslicht noch einmal seine Ähnlichkeit mit Don Antonio bewundern und mit dem Enkel über den Großvater sprechen.«
Mit diesen Worten hielt die Tante ein schweres, silbernes Amulett in die Höhe. Darin prangte eine hervorragend gearbeitete Miniatur: das in Öl gemalte Konterfei eines stolzen spanischen Edelmannes. Sein Oberkörper steckte in Kleidern, wie sie schon seit über fünfzig Jahren niemand mehr trug. Aber abgesehen davon war dieser gebieterisch dreinblickende, sehr gut aussehende dunkelhaarige Mann Rio zum Verwechseln ähnlich.
Der Graf schrie wütend auf. Mit der freien Hand wollte er nach dem Amulett greifen. Doch Celina kam ihm zuvor, riss der Tante das Schmuckstück aus der Hand und drückte es an ihre Brust. Fluchend richtete der Graf die Pistole wieder auf sie.
Die dunkle Mündung des Pistolenlaufes erschien Celina plötzlich so riesig wie die Mündung einer Kanone. Sie sah, wie sich der Finger am Abzug krümmte.
Dann blitzte ein Licht auf, ein Silberstreif, der in der Morgensonne aufstrahlte. Ein Donnerschlag erschütterte die Welt. Etwas traf Celina, und sie wurde gegen die Wand geworfen.
Der Schmerz drohte ihren Kopf zu zerreißen. Nur schwach hörte sie den Schrei ihrer Tante, Rufe und aufgeregte Stimmen. Der Lärm hatte keinerlei Bedeutung für sie. Ihr Blick war verschleiert, und sie konnte nur ein weißes Glühen ausmachen. Kräftige Bänder umschlangen sie, hielten sie fest. Das hätte sie beunruhigen müssen, aber es kümmerte sie nicht. Sie fühlte sich beschützt und geborgen. Celina schloss die Augen.
Endlich in Sicherheit.
»Sag mir, wo du getroffen wurdest, querida«, murmelte Rio. Warm strich sein Atem über ihre Schläfe. »Sag es mir.«
Die Bänder waren seine Arme, das strahlende Weiß die Brust seines Hemdes. Und sie war von seiner Schulter getroffen worden. Er hatte sie aus der Schusslinie gestoßen.
»Ich habe das Amulett«, murmelte Celina.
»Das ist jetzt völlig unwichtig. Ich schwöre bei allen Heiligen, wenn er dir etwas angetan hat ...«
»Mir fehlt nichts. Aber ich glaube ... ich habe mir den Kopf gestoßen.«
»Das tut mir Leid. Das wollte ich nicht. Aber ich musste schnell reagieren.«
»Ich weiß«, sagte Celina. Sie schmiegte den Kopf an Rios Schulter. »Ich weiß.«
Ein Mann kniete neben ihr nieder. Celina wusste schon, bevor er sprach, dass es sich um Caid handelte. »Der Graf ist tot. Kein schöner Anblick, muss ich sagen. Wir sollten Mademoiselle hier wegbringen.«
Celina legte den Kopf zurück und sah Caid überrascht an. »Tot? Aber wie ...?«
»Pasquale. Er hat Rio den Degen entrissen. Pasquale stand dem Grafen am nächsten, und Rio hatte eine andere Pflicht zu erfüllen. Wollen wir gehen?«
Eine Pflicht. Dieses Wort hatte einen unschönen Klang. Aber jetzt war nicht der Augenblick für Fragen. Celina musste aufstehen und Weggehen. Eigentlich wollte sie das nicht und wusste auch nicht, ob sie es
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