Raecher des Herzens
mir gerufen haben. Die Tante meinte es
gut, als sie mir das erzählte. Sie wollte mir damit sicher nur deutlich machen, wie sehr die kleine Marie Therese mich geliebt hat, und wie sehr sie sich wünschte, ich wäre bei ihr. Doch mich verfolgt dieser Gedanke oft bis in den Schlaf.«
»Ich habe mich auch häufig gefragt, ob meine Mutter und meine Schwestern nach mir riefen, ob ich sie und meinen Vater hätte beschützen können, wenn ich ...« Er brach ab.
»Wie kam es, dass Sie nicht bei Ihrer Familie waren?«
Die Antwort ließ so lange auf sich warten, dass Celina schon fürchtete, sie sei mit ihrer Frage endgültig zu weit gegangen. »Mein Hauslehrer meinte, er habe mir nun alles beigebracht, was ich wissen müsse«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich war bereits an der Universität eingeschrieben. In der Zeit, bevor das Studium begann, zog ich umher und tat all die Dinge, mit denen sich vermögende junge Männer mit großen Zukunftsplänen zwischen Schule und Studium die Zeit vertreiben.«
»Der Pfarrer sagt, es sei eitel, sich selbst die Schuld an schweren Krankheiten oder Unfällen zu geben. Für eine so große Verantwortung seien wir weder mächtig noch wichtig genug.«
»Sie starben nicht durch einen Unfall.«
Celina starrte in Rios Richtung. »Wollen Sie damit sagen, dass ... dass jemand das Feuer mit Absicht gelegt hat?«
»Eigentlich sollte auch ich darin umkommen. Als klar wurde, dass ich das Feuer überlebt hatte, beauftragte man ein paar zwielichtige Gesellen damit, mich umzubringen. Nur waren die gedungenen Mörder mit ihrem Lohn nicht zufrieden und wollten lieber zweimal kassieren. Einmal für meinen angeblichen Tod und einmal von dem Kapitän des Schiffes, das mit einer Fracht für den Dey von Algier nach Nordafrika segelte.«
»Dann waren Sie also tatsächlich einst ein Sklave. Suzette erfuhr es von Olivier, aber ich wollte es nicht glauben.«
»Mein Diener redet zu viel«, sagte Rio grimmig.
»In Suzettes Gegenwart kann man gar nicht anders«, sagte Celina. Sie lächelte, obwohl sie nicht glaubte, dass Rio es sehen konnte. »Und wie haben Sie die Sklaverei überlebt? Wie haben Sie Ihre Freiheit wiedererlangt?«
»Nur durch Glück. Kaum zwei Wochen, nachdem ich an Land gegangen war, besiegten die Franzosen die Algerier. Man ließ alle Sklaven frei.«
Rios grimmigem Ton entnahm Celina, dass er ihr auch bei diesem Teil der Geschichte etwas vorenthielt. Er war kein Mensch, der sich widerstandslos unter das Joch der Sklaverei beugte, der untätig daneben stand, während andere kämpften und ihm damit seine Freiheit Zurückgaben. Was sich damals wirklich abgespielt hatte, würde sie wahrscheinlich nie erfahren. Doch inzwischen konnte sie sich ein recht gutes Bild von seiner Vergangenheit machen.
»Ich wusste doch, dass Sie nicht schon immer Fechtlehrer waren«, sagte sie mit einiger Zufriedenheit.
»Das stimmt.«
»Haben Sie das Fechten in Spanien gelernt?«
»Zum Teil. Aber die wichtigsten Techniken lernte ich in Frankreich, wohin ich nach meiner Befreiung gebracht wurde.«
»Das erklärt, warum Sie so gut Französisch sprechen. Sind Sie je nach Spanien zurückgekehrt?«
»Ein einziges Mal. Aber dort hielt mich nichts mehr.«
Meinte er das ganz wörtlich, oder hieß es, dass er dort keine familiären Bindungen mehr hatte? Celina hätte ihn gern gefragt, aber sie wollte ihn nicht bedrängen. »Also kamen Sie hierher. Aber ich frage mich noch immer, aus welchem Grund.« Sie musterte den Mann, der auf ihrer Bettkante saß, unter gesenkten Lidern. »Sie lassen sich in New Orleans nieder und eröffnen ein Studio in der Passage de la Bourse, kennen aber in der Stadt keine Menschenseele. Ein neues Leben hätten Sie doch auch an tausend anderen Orten beginnen können.«
»New Orleans ist eine reiche Stadt. Außerdem wird hier der Code Duello noch bis ins letzte Detail befolgt. Fechtinstruktoren werden also immer gebraucht.«
Celina hatte das Gefühl, dass dies wieder nicht die ganze Wahrheit war. »Dann sind Sie also vor allem aus geschäftlichen Gründen hier.«
»Ich halte mich über Wasser, so gut es geht. Nicht jeder kann sich vorstellen, was das bedeutet.«
»Damit wollen Sie wohl sagen, dass ich, weil ich aus einer betuchten Familie stamme, keine Ahnung vom wahren Leben habe«, stellte Celina fest. »Mein Vater ist reich, nicht ich. Sein Vermögen verdankt er dem Umstand, dass er bereit war, seinen gesamten Besitz zu beleihen und das Geld in eine Zuckerrohrplantage zu stecken. Er ging
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