Raecher des Herzens
Ausstrahlung. Zudem umgab ihn eine Aura der Gefahr. Beides fand Celina anziehend und beunruhigend zugleich. Rio de Silva entfachte in ihr das Verlangen nach Dingen, an die sie bisher nicht einmal zu denken gewagt hatte. Seine Berührungen versetzten all ihre Nervenenden in Aufruhr, und sein Kuss war eine Offenbarung gewesen. Sie hatte geglaubt, für den Dienst, den er ihr erwiesen hatte, in einer Haltung pflichtschuldiger Unterwerfung und mit fest geschlossenen Augen bezahlen zu können. Nicht einmal im Traum hatte sie daran gedacht, dass das Zusammensein mit ihm so aufregend sein könnte.
Celina fand keinen Schlaf.
Endlich fiel die Morgendämmerung durch die
Schlitze der Fensterläden. Der Regen hatte nachgelassen und schließlich ganz aufgehört. Bald würde Rio auf dem Kampfplatz ankommen, und auch seine Herausforderer würden sich einfinden. Dann schritt man getreu den Regeln die Kampfbahn ab und ließ die Waffen sprechen. Das nasse Gras machte ein Duell noch zehnmal gefährlicher.
Gestern um diese Zeit hatte sich Celina um Denys geängstigt. Heute war alles anders.
Sie warf die Decken zurück und stieg aus dem Bett. Ihr erster Weg führte sie zu der Kniebank an seinem Fuß. Sie kniete auf dem Polster aus rotem Samt nieder und nahm den Rosenkranz aus Perlen zur Hand, der auf der kleinen Ablage an der Armstütze lag. Demütig senkte sie den Kopf und betete. Vielleicht bedurfte Rio ihrer Fürbitte gar nicht, doch die Gebete beruhigten Celina.
Der Morgen brachte keine besonderen Ereignisse. Durch den Regen hatte es sich merklich abgekühlt. Celina zog sich einen burgunderfarbenen, samtenen Hausmantel über, bevor sie zu ihrer Tante ins Frühstückszimmer ging. Zum Frühstück gab es warmes Hefegebäck und Milchkaffee. Der Vater schlief noch, und Denys war früh ausgegangen. Sicher ließ er es sich nicht nehmen, den Duellen als Zuschauer beizuwohnen.
Tante Marie Rose ahnte nichts von den Ereignissen, die ihre Nichte bewegten. Die Saison näherte sich dem Höhepunkt, und genau darum drehten sich ihre Gesprächsthemen.
»Die Rochebriants sind nun auch endlich angekommen«, sagte sie. Dabei strich sie eine dicke Schicht Ap-rikosenmarmelade auf ihre Brioche. »Gestern waren die Türen und Fenster offen, und aus dem Kamin stieg Rauch. Es überrascht mich, dass sie überhaupt gekommen sind, denn schließlich ist ein paar Tage vor Weihnachten ihr Schwiegervater gestorben. Wahrscheinlich will Madame Rochebriant nun erst einmal ihre Garderobe ergänzen. Wir müssen unverzüglich unsere Karten abgeben, obwohl ihnen sicher der Sinn nicht nach größeren Veranstaltungen steht. Soweit ich gehört habe, kommt Madame Rochebriants Schwester, Madame Decou, dieses Jahr auch später, vielleicht sogar erst nach Mardi Gras. Ihr Zweitältester Sohn hat sich bei der Schnepfenjagd das Bein gebrochen und kann noch nicht reisen. Das tut mir sehr Leid für ihn. Er ist nämlich wirklich ein netter Junge. Ach, und gestern habe ich Helene Payne getroffen. Sie fuhr in einem Ponywagen die Straße entlang. Was für ein lächerlicher Anblick! Warum ihr Gatte ihr keine ordentliche Kutsche zur Verfügung stellt, ist mir ein Rätsel. Leisten könnte er es sich ohne weiteres. Natürlich war wie üblich ihre Schwiegermutter bei ihr. Was für eine unangenehme Person! Immer macht sie ein Gesicht, als habe sie in eine Zitrone gebissen.«
»Und Madeleine?«
»Die älteste Tochter? Sie war nicht mit im Wagen. Aber vor ein paar Tagen sah ich sie auf dem Balkon sitzen. Warst du nicht mit ihr auf der Klosterschule?«
»Nur ein Jahr lang. Sie ist jünger als ich.«
»Sie hat in dieser Saison ihr Debüt. Was denkst du, wäre sie eine passende Frau für unseren Denys?«
»Sie wäre mehr als akzeptabel«, antwortete Celina.
»Aber ich dachte, wir wären mit Madame Payne zu nahe verwandt.«
»Nein, nein. Ihr Großvater, das jüngste von dreizehn Kindern, war der Bruder deines Urgroßvaters, nicht deines Großvaters. Damit wäre Madeleine - lass mich nachdenken - für Denys eine Kusine vierten Grades? Aber da fällt mir ein, schon die Großmutter war eine Kusine zweiten Grades, nicht wahr? Oder täusche ich mich? Mais non! Madame Paynes Großvater war der Sohn der zweiten Frau, während dein Urgroßvater das Kind der ersten war. Sie ist die Kusine, an die ich dachte. Damit sind wir so gut wie überhaupt nicht verwandt.«
Celina versuchte nicht einmal, die verworrenen Verwandtschaftsverhältnisse zu verstehen. Es war üblich, dass die Sprösslinge der
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