Raecher des Herzens
französisch-kreolischen Großfamilien von New Orleans untereinander heirateten, wodurch die verwandtschaftlichen Beziehungsgeflechte immer komplizierter wurden. Früher war die Kolonie, die erst zu Frankreich und später zu Spanien gehört hatte, einfach zu isoliert gewesen, als dass man leicht andere Ehepartner hätte finden können. Inzwischen heirateten die französischen Kreolen vor allem deshalb innerhalb ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe, weil ihnen die Invasion der Amerikaner mit ihrem ausgeprägten Geschäftssinn, ihren schwer nachvollziehbaren politischen Interessen und dem oft ungewohnt lauten und gehetzt wirkenden Gebaren unheimlich war. Nur ältere Frauen mit einem sehr guten Gedächtnis wussten die Verwandtschaftsgrade der kreolischen Dynastien noch zu entwirren. Bei den allmorgendlichen Höflichkeits-besuchen während der Saison des Visites widmete man sich dieser Beschäftigung mit Hingabe. Die Saison begann traditionell am ersten November, wenn man davon ausgehen konnte, dass die sommerlichen Fieberwellen vorüber waren. Sie endete am ersten Mai, denn spätestens dann verwandelten die Wolken von Stechmücken, die sich aus den Sümpfen erhoben, jede Abendveranstaltung in einen Alptraum.
»Ob mir die Braut gefällt, tut ohnehin nichts zur Sache«, sagte Celina. »Denys kann sich selbst aussuchen, wen er heiraten will.«
»Ja, das ist wahr«, sagte die Tante und nahm sich noch ein Stück Brioche. »Aber man sollte die jungen Leute mit dieser folgenschweren Entscheidung nicht allein lassen.«
Ob das mit einschloss, dass ein Vater alles daransetzte, seine Tochter mit einem spanischen Grafen zu verheiraten, den sie nur flüchtig kannte? Oder versuchte die Tante nur gute Miene zum bösen Spiel zu machen?
»Stimmt es, dass auch deine Ehe für dich arrangiert wurde?« Celina sah die Tante fragend an. »Hat dir das nichts ausgemacht?«
»Das ist lange her, chere, sehr lange her.« Die Tante schob sich ein Stück Gebäck in den Mund und griff nach der Kaffeetasse.
»Ja, aber wie fühltest du dich damals? Ist es dir gelungen, Onkel Alphonse lieb zu gewinnen? Passtet ihr überhaupt zueinander? Hast du die Hochzeit nie bereut?«
Tante Marie Rose kaute, schluckte und trank dann ihre Kaffeetasse leer. Sorgfältig stellte sie sie wieder auf die Untertasse zurück. »Wir ... wir verstanden uns ganz gut. Unsere Ehe war nicht unerträglich.«
»Aber so, wie sich das anhört, war sie auch nicht besonders glücklich.«
»Er hat unser gesamtes Vermögen verspielt.«
»War das alles?«
»Das dürfte ja wohl genügen. Ich lag nächtelang wach, weil ich fürchtete, eines Tages in einem Verlies des Schuldturms zu enden. Damals geschah das gar nicht so selten. Heute kommt es kaum noch vor, und ich habe gehört, man wolle diese Strafe ganz abschaffen. Als dein Onkel Alphonse starb, war deine Mutter so großherzig, mich aufzunehmen. Ich wüsste nicht, was sonst aus mir geworden wäre.«
»Für uns ist es ein großes Glück, dass wir dich haben, Tante. Aber bitte erzähl weiter. Hatte Onkel Alphonse während eurer Ehe je eine Geliebte oder vielleicht gar eine Mätresse, die sich von ihm aushalten ließ? Und wenn ja, machte es dir etwas aus?«
»Ach du meine Güte, Kind! Solche Fragen solltest du mir nicht stellen.«
»Wen soll ich denn sonst fragen? Ich habe doch keine Mutter mehr«, antwortete Celina. »Schließlich will ich wissen, was mich erwartet.«
Tante Marie Rose legte die ansonsten meist glatte weiße Haut ihrer Stirn in Falten. Sie schob den Teller beiseite und wischte sich umständlich den Mund ab. »Ich verstehe dich ja. Aber ich weiß nicht, ob dein Vater dieses Gespräch billigen würde.«
»Es geht um mein Leben, um meine Zukunft! Warum sollte ich mich nicht wappnen?«
»Ja, wahrscheinlich hast du Recht.« Die Tante seufzte, ließ die Serviette fallen und schlang die Finger ihrer kleinen, rundlichen Hände ineinander. Dann rückte sie ein wenig näher an Celina heran und senkte die Stimme. »Du musst mir versprechen, dass das, was ich dir nun erzähle, unser Geheimnis bleibt.«
»Ich verspreche es.« Die Worte waren kaum heraus, da hätte Celina sie am liebsten wieder zurückgenommen. Würde sie das, was sie nun zu hören bekam, überhaupt ertragen können?
»Für eine Frau ist der Stand der Ehe kein Zuckerschlecken. Sie opfert ihre Freiheit und ihren eigenen Willen, und ihr Körper gehört ihrem Mann. Sie tauscht die Tyrannei ihres Vaters gegen die Herrschaft eines Fremden, dem ihr Glück und ihr
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