Räuberbier
neugierig. »Oder besser gefragt: Was ist da nicht drin?«
»Mehl und 0,3-prozentige Milch. Keine Eier, kein Zucker«, erzählte Jürgen stolz. »Langt ruhig zu, es reicht für alle.«
Dabei schaute er frech auf meinen Bauch und lächelte.
Da mir spontan kein Name einer geeigneten Nahrungsmittelallergie einfiel, griff ich vorsichtig mit Daumen- und Zeigefingerspitze nach einem Teilchen in Sternform. Dennoch bröselte ein beträchtlicher Teil ab, so als hätte es ein Kleinkind im Sandkasten mit einer Stechform hergestellt. Jutta hatte ihre fieseste Mimik aufgesetzt, als sie meinen todesmutigen Versuch beobachtete. Ich wagte es, den Rest des Sternes in den Mund zu stecken. Das Resultat war schlimmer als vermutet. Sofort löste sich das Mehl in kleinste Körner auf, die sich schmirgelpapierartig im ganzen Rachen verteilten. Den vorderen Bereich konnte ich noch halbwegs mit meiner Zunge bereinigen, doch das in Mitleidenschaft gezogene Zäpfchen und der Rachenabgang waren damit nicht zu erreichen. Jutta bemerkte meinen Todeskampf und reichte mir spontan ihre Tasse Sekundentod. Pest oder Cholera, ich hatte die freie Auswahl. In meiner Not schnappte ich mir den Zehnerpack mit den Kondensmilchportionen, der neben der Kanne lag und riss sie allesamt auf. Die Hälfte, die ich dabei nicht auf Tisch und Hose verschüttete, trank ich gierig aus. Die Schwere meines minutenlangen Kampfes dürfte in etwa mit einem täglichen Kantinenbesuch über zwei Wochen bei der Stadtverwaltung Ludwigshafen vergleichbar gewesen sein. Endlich hatte ich es geschafft, und ich blickte in das tränenüberströmte Gesicht meiner Kollegin. Ich wusste genau, um welche Tränen es sich handelte. Ich hob die offene Papiertüte unter ihre Nase und sagte mit süßesten Tönen: »Probier doch auch mal, Jutta. Die schmecken vorzüglich. Jürgens Mama versteht ihr Geschäft.«
Jutta hatte Zeit genug gehabt, sich eine Rettungsstrategie auszudenken. »Ein anderes Mal gerne. Ich mache zurzeit eine Kaffeediät. Da darf ich nichts anderes zu mir nehmen.«
Jürgen strahlte. Er würde das Gebäck für seine Jutta aufbewahren, dafür würde ich sorgen.
»Jetzt mal Spaß beiseite«, wechselte ich mit einem Blick zur Uhr das Thema. »Wir sollten uns mit dem Mordfall in Ludwigshafen befassen.«
»Genau«, meinte Jutta und war sichtlich erleichtert, kein Sandgebäck probieren zu müssen. Sie gab die Akte, die sie von KPD bekommen hatte, an Jürgen.
»Schau dir mal intensiv die Berichte von der Spusi und des Arztes an, Kollege. Reiner und ich fahren nach Mannheim in die Klinik.«
Jürgen schaute mich überrascht an. »War was mit dem Gebäck nicht in Ordnung?«
»Nein, nein«, log ich. »Der Tote arbeitete dort als Assistenzarzt. Wir wollen uns seinen Arbeitsplatz anschauen. In den Unterlagen, die dir Jutta gegeben hat, findest du die Privatadresse von Doktor Schönhausen. Der hatte eine Nachbarin, Frau Eleonores oder so ähnlich. Bitte ruf sie an und lass dir die Adresse von Schönhausens Bruder geben. Den müssen wir unbedingt erreichen. Dann kannst du gleich noch recherchieren, ob es weitere Verwandte gibt.«
Jürgen hatte sich seine Aufträge gewissenhaft notiert.
»Wenn du dann noch Zeit hast, schau bitte mal nach, ob die alten Ägypter das Bier erfunden haben.«
Meine Kollegen glotzten mich an, als wäre ich meschugge.
»Brauchst du die Informationen wegen des Mordfalls?«, fragte Jürgen ungläubig.
»Das nicht«, antwortete ich lässig. »Es interessiert mich einfach.«
Ich wandte mich an Jutta. »Wollen wir? Heute fahre ich, okay?«
6 Ein altbekanntes Gesicht
»Würdest du bitte die Heizung einschalten?« Das war das Erste, was Jutta sagte, als sie eingestiegen war. Wie auf einem Basar schaltete ich das Gebläse zunächst auf Stufe 1. Jutta hob ihre Hand mit sämtlichen ausgestreckten Fingern. Ich pokerte auf Stufe 3. Letztendlich einigten wir uns auf Stufe 5, die Maximaldosis.
Bereits in Ludwigshafen war ich total verschwitzt, während sich meine Kollegin sichtlich wohlzufühlen schien. Den Weg kannte ich auswendig. Das Krankenhaus befand sich südöstlich der Eichbaum-Brauerei. Es war eine seltsam anmutende Region. Die Brauerei und die umliegende Wohngegend hatten den Namen ›Wohlgelegen‹. Direkt südlich davon befanden sich gleich vier verschiedene Krankenhäuser in unmittelbarer Nachbarschaft. Im Sprachgebrauch der Einwohner hieß das Klinikgebiet ›Krankgelegen‹.
Am weitesten südlich gelegen, auf der anderen Seite des Neckars,
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