Räuberbier
ich schätzte sie auf locker 100 Jahre. Fast wären wir daran vorbeigelaufen. Im letzten Moment sah ich die zwei Beine, die aus der Wanne hingen.
»Halt«, rief ich Becker zu. »Leuchten Sie mal da rüber.«
Die Beine waren tot. Genauso tot wie der Rest des Körpers, den jemand in die Wanne gepresst hatte. Das Gesicht des Toten war auf seine Brust gedrückt. Dennoch erkannte ich ihn an seinem fettigen Haar sofort: Karl-Heinz Schönhausen. Wenn ich mit allem gerechnet hatte, mit dem nicht.
Becker wurde blass. »War es dieser Kerl, der uns im Getränkelager umbringen wollte?«
Ich schaute ihn mitleidig an. »Herr Becker, schauen Sie mal genau hin.« Ohne auf den sowieso nicht mehr vorhandenen Hygienestandard zu achten, griff ich Schönhausens Haar und zog seinen Kopf nach hinten. Jetzt konnte Becker die Schusswunde in seiner Stirn sehen. Ein weiterer Blick zeigte ihm, dass der Tote im Schuhbereich vollständig bekleidet war.
»Glauben Sie, dass er Selbstmord begangen hat?«
»So sieht es nicht gerade aus, oder?« Becker zweifelte.
»Natürlich liegt hier Fremdverschulden vor. Das sieht doch ein Blinder. Außerdem ist er mindestens eine Stunde tot, wenn nicht länger.« Ich merkte, wie Becker ein paar Schritte zurückging. Die Szene war ihm anscheinend unheimlich.
»Wer könnte das sein, Herr Palzki? Ein Mitarbeiter der Brauerei?«
»Ach, Sie kennen den Toten ja gar nicht. Darf ich vorstellen: Vor Ihnen liegt Karl-Heinz Schönhausen, der Bruder von Detlev.«
»Nein!«, entfuhr es dem Studenten. »Das ist nicht wahr, oder?«
»Habe ich Sie schon einmal angelogen?«
»Was macht der denn hier?«
»Vielleicht wollte er ein Bad nehmen? Herr Becker, woher soll ich das wissen! Ich bin genauso überrascht wie Sie. Karl-Heinz Schönhausen war Alkoholiker. Aus verschiedenen Gründen kam er bisher nicht als Verdächtiger in Betracht.«
Becker leuchtete mit seiner Lampe direkt in das Gesicht des Toten. »Warum soll er seinen Bruder umgebracht haben?«
Ich nahm ihm die Lampe ab und leuchtete den Raum ab, um eventuell weitere Überraschungen zu finden. »Ich glaube nach wie vor, dass er es nicht war«, antwortete ich Becker nach einer Pause. »Ich denke eher, dass er eine Ahnung hatte, wer es gewesen sein könnte. Wahrscheinlich hat er den in seinen Augen mutmaßlichen Täter erpresst, was gleichbedeutend mit seinem eigenen Todesurteil war.«
»Aber warum im Keller der Brauerei?«, fragte der Student weiter. »Da gibt’s doch keinen Zusammenhang, oder?«
»Oh doch, da bin ich mir inzwischen sicher. Wir haben den Zusammenhang bisher nur noch nicht gefunden.«
Meine Raumanalyse endete negativ. Den toten Schönhausen zu durchsuchen, ersparte ich mir. Das sollten später die baden-württembergischen Spurensicherer machen, wenn sie nicht gerade alle krank oder in Urlaub waren.
»Lassen Sie uns nach oben gehen«, forderte ich den Studenten auf.
Becker nickte. »Sie haben recht, ich will hier weg.« Er schaute mich an. »Kennen Sie von hier aus den Weg ins Freie?«
Damit hatte er einen wunden Punkt getroffen. »Ich habe keine Ahnung, wo wir genau sind. Wir müssen versuchen, uns den Weg einzuprägen, damit wir die Polizei nachher zur Leiche lotsen können. Haben Sie zufällig ein Stück Kreide dabei, damit wir den Weg markieren können?«
Dietmar Becker brachte ein kurzes Lachen zustande. »Warum so altmodisch, Herr Becker? Ich habe was viel Moderneres!« Er zog sein Handy aus der Tasche.
»Das funktioniert hier unten niemals!«, ereiferte ich mich.
»Wenn Sie mit Funktionieren das Telefonieren meinen, gebe ich Ihnen recht. Das Handy hat aber noch weitere Funktionen.« Er nahm sein kleines, chromfarbenes Etwas und hielt es einen halben Meter vor sich. Nach ein paar Sekunden nickte er zufrieden. »Das war’s, es klappt einwandfrei. Gehen Sie vor, Herr Palzki. Bitte halten Sie an jeder Einmündung oder spätestens alle zehn Meter kurz an.«
Ob dem Studenten mal wieder der Sauerstoff zu knapp geworden war? Fing er an, zu fantasieren? Eben noch hatte er sein Handy gehalten, als würde er sich gleich von Scotty auf die Enterprise beamen lassen wollen.
»Ist Ihnen wirklich gut, Herr Becker?«
Er sah mir die Skepsis im Gesicht an und lächelte ein zweites Mal. »Gell, Sie wissen nicht, was ich eben gemacht habe? Mit meinem Handy kann man auch fotografieren. Ich habe eben ein Bild von diesem Raum gemacht. Wenn wir dies alle paar Meter wiederholen, kann Ihr Freund Ferdinand Jäger nachher anhand der Fotos unseren Weg
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