Räuberleben
Jägerrock. Gehen, weitergehen, dem Talboden folgen. Sie werden bald Bescheid wissen über Hannikels Flucht, man wird seinen Steckbrief verbreiten, eine halbe Armee auf ihn ansetzen, ihn mit Hunden verfolgen. Also raschmöglichst in die Wälder, in die Höhe, durchs dichteste Gestrüpp. Dazu muss er erst über den Fluss, aber um die Brücke zu sehen, ist es noch nicht hell genug. Keine Lichter weit und breit, nur ein Summen in der Luft, in den Ohren. Er sucht sich einen Baum an der Straße, den er halb erahnt, halb ertastet, eine Linde ist es wohl. Er kauert sich darunter und friert nun doch. Warten, bis es Tag wird, wann hat er das letzte Mal so lange gewartet? Man wird schwer dabei, das Unglück sammelt sich im Bauch. Keine Röte im Osten, nur ein fahler Streifen, der sich allmählich verbreitert. Kirchenglocken läuten, es sind schon Karren unterwegs. Wenn man ihn fragt, wird er sagen, er sei ein Jäger in gräflichen Diensten. Endlich sieht er von weitem die Holzbrücke über den jungen Rhein. Fiele man ins Wasser, wäre alles vorbei, in Frieden triebe man dahin, aber er fällt nicht, stolpert bloß, als er die Brücke überquert. Er schleicht vorbei an Häusern, in denen es noch ruhig ist, meidet solche, aus denen Rauch aufsteigt. Hinein in den Wald, ins Weglose, das Gelände beginnt zu steigen. Der Kampf gegen die Ranken überall, gegen den aufgeweichten Boden, der die Schuhe nicht freigeben will, gegen die Müdigkeit, die ihn einlädt, sich hinzulegen, die Augen zu schließen, an die schönen Tage zu denken, als er mit der Mutter zusammen Gänse hütete. Die schnatternde Schar, dieses possierliche Spreizen der Flügel, und wie er, der Springinsfeld, ihnen nachlief, sie mit einem Stecken zusammentrieb. Daran denkt er gern, zwingt sich zugleich, Fuß vor Fuß zu setzen, zu klettern, wo es nicht anders geht, den Körper über Fels zu schieben. Da keucht einer, schnappt nach Luft, das ist er selbst, der Hannikel, und er treibt sich voran, so wie er seine Männer antrieb, als sie Mitleid hatten mit dem Liebmann Levi in Marienthal. Seine Männer trugen Phantasieuniformen und gaben sich als französische Soldaten aus, als sie ins Dorf einmarschierten, sie nagelten die Kirchentür zu, damit niemand Sturm läuten konnte, schlugen dann beim Juden mit dem Beil ein Fenster ein. Wenn man schon so weit gegangen ist, darf man vor nichts mehr zurückschrecken. Sie verprügelten den alten Juden, und der Judentochter träufelten sie heißes Pech auf den Kopf, damit sie preisgab, wo das Geld versteckt war. Umgebracht haben sie niemanden in Marienthal, aber Beute gemacht, die wieder für ein halbes Jahr reichte. Er musste ja für fünfzig Leute sorgen, die sonst am Hungertuch nagten und dauernd herumgejagt wurden, über die eine Grenze hin, über die andere zurück.
Nicht zu glauben, der Regen verwandelt sich in Schnee, viel zu früh für die Jahreszeit. Er schmeckt die Flocken auf der Zunge. Der Junge damals tanzte herum im Flockenreigen, zusammen mit den Brüdern, er lernte, auf der Schalmei zu blasen, er war froh, dass sie, die Reinhardtschen, vom großen Bochowitz und seiner Sippe aufgenommen wurden. Ein wenig Wärme fanden sie auf dem Heuboden eines Hehlers im Pfälzer Wald. Von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel ging es dann. Diese schlimmen Winter! Auch später, als er der Anführer war, dauerte ihn am meisten das Jammern der Kleinen. Wie lange geht es schon aufwärts? Fast nur noch Tannen jetzt, mit weißgefiederten Ästen, auf dem Boden ein weißer Teppich, den er mit jedem Schritt zerstört. Nebelfetzen ziehen vorbei, der Wald lichtet sich. Eine Alp mit ein paar verlassenen Hütten, abgefressenen Weiden, die Herden sind schon talwärts gezogen. Überall Kuhdreck, er flucht, wenn er hineintritt. Durst. Er stopft sich Schnee in den Mund, er stößt auf einen Brunnen, trinkt aus dem Trog. Hier kann er die Nacht verbringen und auf besseres Wetter hoffen. Die Türen sind ja offen. Er schaut sich um, sucht eine Ecke, in der noch genügend Stroh liegt, dort gräbt er sich hinein, er niest, er lacht, hier wird ihn niemand finden, der Schnee deckt die Spuren zu. Dunkelheit, Mäusegetrippel, er kaut an Strohhalmen, um das Hungergefühl zu besänftigen. Schon weit schlimmeren Hunger hat er ausgehalten, damals, als sie die Geißin wegen Bettelei festnahmen und die Kinder ihrem Schicksal überließen. Was hat die Mutter nicht alles ausgestanden! Den Großvater, den kleinen Konrad, flochten sie aufs Rad. Das wollte der Junge nicht
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