Räuberleben
Sinti. Vor dem Tarot, das hat Käther ihn gelehrt, sind alle gleich, nicht aber vor irdischen Gerichten, da wird den Sesshaften geholfen und den Zigeunern nicht.
Den Traum vom Fluss träumt er oft. Mit denen, die ihm am nächsten sind, will er ihn überqueren. Es ist vielleicht der Rhein, denn am andern Ufer steht eine Stadt, man hört Musik. Über die steinerne Brücke dürfen sie nicht, sie wird von Soldaten bewacht. So gehen sie hinein in den Fluss und halten sich an den Händen. Doch mit jedem Schritt wird die Strömung stärker, mit jedem Schritt steigt das Wasser. Die Kraft reicht nicht, einander festzuhalten. Die Ersten in der Reihe werden weggerissen, treiben davon und versinken. Graugrün schwappen die Wellen über sie. Er sieht machtlos, wie seine Mutter die Arme nach ihm ausstreckt, wie sie seinem Blick entschwindet, er sieht die Brüder untertauchen, er sieht, wie Käther, die wieder viel jünger ist, von ihm wegtreibt. Er will sie alle retten, aber auch Dieterle, den er als Letzten an sich drückt, ein Wickelkind, gleitet aus seinen kraftlosen Armen. Nun ist er allein, das Wasser strömt ihm in den Mund, es erstickt seinen Schrei.
In namenlosem Schreck, zitternd vor Kälte wacht er auf, ringt um Atem. Durch die Stalltürritzen zeigt sich der Tag. Mit den Fingernägeln hat er blutige Male in seine Handflächen gekerbt. Es dauert lange, bis die Verkrampfung sich löst und er wieder weiß, wo er ist. Draußen liegt knöchelhoch nasser Schnee, aber es schneit nicht mehr. Wie weit hinauf ist er gestern gekommen? Wenn er jetzt noch weitersteigt, wird man leicht seinen Spuren folgen können. An der Waldgrenze unten, das überblickt er von der Hütte aus, nimmt der Schnee schon ab und schmilzt bereits. Es ist besser, eine Strecke zurückzugehen, möglichst schneefreie Wege zu suchen. Und dann nach Süden! Drinnen im Stall entdeckt er in einem Winkel eine zusammengeknüllte Wolldecke, sie ist zerfressen und feucht, aber er breitet sie aus, glättet sie ein wenig, legt sie über sich; nur schon das Gefühl, dass sie ein wenig wärmt, tut ihm gut. Also weiter, mit knurrendem Magen, bald schon durch Wald und Unterholz, immer leicht abwärts. Heidelbeeren unter schmelzendem Schnee, er verschlingt eine Handvoll davon, er kaut an nassen Trompetenpilzen, von denen er weiß, dass sie essbar sind. Die Mutter, die Geißin, kennt sie alle, die essbaren und die giftigen. Ein Pfad jetzt, der am Hang entlangführt. Fuß- und Tierspuren deuten auf Menschen hin, er gelangt auf eine tiefer gelegene Alp, wo kaum noch Schnee liegt. Hundegebell. Man hat hier noch vor kurzem gemäht, das Emd zu Haufen geschichtet, darin stecken die hölzernen Heugabeln.
Aus der größten Hütte tritt ein Mann, um den Hund zurückzurufen. Wer er sei, fragt er in schwerverständlichem Dialekt den Wanderer.
Ein Jäger, der den Weg verloren habe, erwidert Hannikel.
Ohne Gewehr?, fragt der Mann misstrauisch.
Er sei ausgerutscht, erklärt Hannikel und bemüht sich um eine deutliche Aussprache, das Gewehr sei ihm entglitten, er habe es nicht mehr gefunden. Ob er etwas trinken dürfe, vielleicht ein Stück Brot bekomme?
Zögernd lässt der Senn den Fremden ins Hütteninnere. Dort sitzt eine ganze Gruppe beim frühen Mittagessen: ein Alter, zwei Halbwüchsige, eine jüngere Frau. Der Qualm vom offenen Feuer bringt Hannikel zum Husten, aber er riecht auch die Suppe auf dem Tisch, und sein Hunger ist so stark, dass er alles verspräche, um mitzuessen. Man hat Erbarmen mit ihm, schiebt ihm einen gefüllten Napf hin. Zum Glück scheint es nicht unüblich zu sein, dass um diese Jahreszeit Jäger allein unterwegs sind, sogar solche von weit her.
Ob er etwas gehört habe vom Diebsgesindel?, fragt der Senn Hannikel, der die Gerstensuppe schlürft wie eine Köstlichkeit.
Diebsgesindel?, wiederholt er, einer Panik nahe.
Ja, die Bande, die man doch verhaftet und in Chur festgesetzt habe, davon werde jetzt überall geredet. Im Tal habe man gesagt, sie würden nächstens vom berühmten Räuberjäger Schäffer abgeholt und ins Württembergische überführt, heute vielleicht oder morgen.
Jaja, sagt Hannikel, davon habe er gehört, er wisse aber auch nichts Genaues.
Das Emd müsse ohnehin trocknen, wirft der Alte ein, es sei ein Hudelwetter, da könnten sie ebenso gut ins Tal hinuntersteigen, er möchte doch allzu gerne solche Schurken einmal von nahem sehen. Dazu lacht er lange und dröhnend.
Die Halbwüchsigen am Tisch, die den Gast immerzu anstarren,
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