Räuberleben
die Brust, schon wollen sie ihn binden. Hannikel bäumt sich auf. Zwei, drei schüttelt er ab, er wankt davon, stolpert, und dann sind sie wieder über ihm. Schläge, Tritte, er blutet aus dem Mund, will weiterkriechen. Sie fesseln ihm die Hände auf dem Rücken, stellen ihn auf die Füße, stoßen ihn voran. Ein Gehen wie durch zähen Teig. Wenn er umzusinken droht, schreit man ihn an. Links und rechts wird er gestützt, gestoßen, zeitweise muss man ihn tragen, und Hannikel gleitet hinüber in den Sommermorgenwald. Jetzt ist es bald so weit, Käther, wir sehen uns wieder, die Lichttücher in der Frühe, erinnerst du dich? Irgendwann die Rufe: »Wir haben ihn, wir haben ihn!« Da sind sie im Tal, bei der Brücke. Ein großer Menschenauflauf. Nach Ragaz soll’s gehen, im Schinderkarren. Nein, heißt es, als die Dämmerung schon anbricht, nach Sargans soll er, aufs Schloss, der Landvogt hat es befohlen. Und Schäffer?, denkt Hannikel, wenn er aus der Bewusstlosigkeit auftaucht, wo ist Schäffer? Man hat ihn ganz zusammengeschnürt, die Hände an die Füße gebunden. Pferdeäpfel fliegen gegen ihn, Steine. Dieterle, murmelt er, nur halb bei Besinnung, das musst du wissen: Man gönnt uns die Freiheit nicht, aber lass sie dir nicht nehmen.
Vaduz, den 9. September 1786, in der Frühe
Mein lieber Freund,
so vieles ist geschehen, seit ich die Feder am 6. ds. in Chur mitten in der Nacht absetzen musste. Heute wird mich Schäffer größtenteils in Ruhe lassen; er gönnt mir eine Pause nach den Strapazen, die ich durchgestanden habe. Und das gibt mir, lieber Freund, die Gelegenheit, Ihnen etwas ausführlicher Bericht zu erstatten über die tumultuösen Ereignisse der letzten Tage.
Was für eine Aufregung, was für ein Aufruhr, als sich die Nachricht verbreitete, Hannikel sei ausgebrochen und spurlos verschwunden! Das konnte doch nicht wahr sein! Der Schock vernagelte uns allen zunächst den Verstand. Im Wirtshaus, wo ich logierte, ging es drunter und drüber. Mein Bettnachbar, der Leutnant, polterte im Dunkeln aus dem Zimmer, schrie nach seinen Leuten, stürmte mit einem Licht wieder herein und erneut hinaus, warf mich dabei fast um. Man solle sich draußen versammeln, hörte ich ihn kommandieren. Auch die Husaren rannten nun schimpfend herum, Gläser fielen zu Boden, Holz zersplitterte, der Wirt jammerte, draußen wieherten Pferde, Hunde bellten wie toll. Vorsorglich zog ich mich an, da kam schon die Order, ich solle mich zu Schäffer begeben, und der fackeltragende Bote führte mich durch die Gassen zu Schäffers Privatlogis beim Landpfleger Matheis.
Es ging gegen halb drei, aber die Stadt war belebt und beinahe taghell von zahllosen Lichtern. Aus allen Häusern kamen die Leute und drängten sich zusammen, vom Stimmengewirr hob sich immer wieder ein Name ab: Hannikel! Hannikel! Streckenweise musste ich mir den Weg durchs Gedränge richtiggehend erkämpfen. Weshalb Hannikel auch hier so verhasst ist, weiß ich nicht; es sind wohl die Gerüchte über ihn, die so viel Ablehnung erzeugen.
Schäffer, der schon in Amtstracht draußen vor dem Haus stand, fuhr mich an, weshalb ich so lange bis zu ihm gebraucht hätte. Meine Antwort wollte er gar nicht hören. Er war im Fackellicht gespenstisch bleich und hielt sich sehr gerade; von Zeit zu Zeit jedoch durchlief ihn ein Zittern, und ich hatte den Eindruck, es brauchte wenig und er fiele in Ohnmacht. Auch ich war vor Aufregung wie im Fieber und wusste kaum, wo mir der Kopf stand.
Schäffer sprach mit größter Beherrschung, deshalb brachte er die Lippen kaum auseinander, und ich hatte Mühe, ihn zu verstehen. Die liederlichen Stadtknechte seien schuld an allem, sagte er giftig, sie hätten sich besoffen, statt Hannikel zu bewachen, oder ihn gar mit Absicht laufenlassen. Dafür werde er sie belangen und die Stadt Chur dazu! Himmel und Hölle werde er in Bewegung setzen, um den Ausbrecher, tot oder lebendig, wieder einzufangen! Das alles brachte er so drohend und vorwurfsvoll vor, als trüge ich eine Mitschuld. Er packte mich sogar am Kragen, dies vor einem Dutzend Zuschauern, schüttelte mich und blies mir dazu seinen schlechten Atem ins Gesicht. Wenn der Herr Oberamtmann in diesem Zustand ist, hat es keinen Sinn, sich zu wehren. Man muss ihm zustimmen, dann geht es am schnellsten vorbei. Als sich Schäffer in der Tat ein wenig abgekühlt hatte, wollte er mich an den Schreibtisch scheuchen, damit ich - um diese Zeit! - Expressbriefe an den Grafen von Salis und sogar an
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