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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Hartmann
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daran erinnere, es werde ja auch sein Gewissen entlasten, wenn er nichts verschweige. Dieterles Atem stockte, die eckigen Schultern hoben sich in stummer Abwehr. Es war, als gleite über sein Gesicht ein Vorhang. Grau griff, einem Impuls folgend, nach Dieterles Hand. Einen Moment lang umschloss er sie und spürte, wie kalt und steif sie war, dann riss Dieterle sie mit einem erstickten Laut los und wich die paar Schritte bis zur Hofmauer zurück. Wie einer, der gleich erschossen würde, stand er an der weißgetünchten Wand, den Rücken an sie gepresst, die Arme halb erhoben. In seinen Augen stand ein solcher Jammer, dass Grau selbst davon erfasst wurde. Auf einmal jedoch schienen sie zu erblinden, leer starrten sie vor sich hin. Es war sinnlos, auf weiteren Fragen zu insistieren; Dieterle wollte weder sein Mitleid noch seine Hilfe. Mit einer geradezu rachedurstigen Bitterkeit sah Grau ein, dass der Junge in diesem Fall nun eben das offizielle Verhör überstehen musste. Das teilte er ihm mit, bevor er dem Wärter winkte, damit er den Jungen wieder einschloss. Dieterle ging darauf nicht ein, aber er sagte nun doch etwas: »Den Vater möchte ich gerne sehen, meinen Vater, der immer so allein ist.« In der Tat, seit der Konstanzer Hans abgereist war, befand sich Hannikel wieder in Einzelhaft; mit der engsten Familie war er seit Monaten nicht mehr zusammengebracht worden. Das sei von höchster Stelle so angeordnet, sagte Grau, und er, Dieterle, habe sich durch sein Schweigen ohnehin keine Belohnung verdient. Ein Wärter führte den Jungen ab. Knapp vor der Tür wendete er den Kopf mit einem rätselhaft verlangenden Blick zum Schreiber, er kam dabei ins Stolpern, wurde vom Wärter gemaßregelt und vorwärtsgestoßen. Grau hatte die Hand zu einem halben Winken erhoben. Er blieb noch eine Weile im Hof stehen, betrachtete das kränkliche Gras, das aus den Ritzen zwischen den Steinplatten wuchs, er hörte aus dem Innern des Gefängnisses gedämpfte Stimmen, sie wurden übertönt von den schrillen Rufen eines Milans, der einige Male den Himmel über dem Hof durchschnitt. Sein Schatten glitt über Grau hinweg wie eine blitzschnelle kühle Berührung.
    Er musste Schäffer gestehen, dass sein Versuch, Dieterles Vertrauen zu gewinnen, nichts genützt hatte. Es war wieder die abendliche Zeit nach einem langen Verhör, doch jetzt war es um diese Uhrzeit draußen noch hell. Schäffer nickte gemessen nach Graus Bericht. Etwas wie Bedauern flog über sein Gesicht, er zog die Nase kraus, als unterdrücke er einen Niesreiz.
    »Dann wird das Verhör morgen stattfinden, punkt acht Uhr«, sagte er. »Wollt Ihr protokollieren, Herr Schreiber? Oder zieht Ihr es vor, in den Ausstand zu treten und die Aufgabe Eurem Gehilfen zu überlassen?«
    Grau hatte den Drang, seine Halsbinde zu lockern. »Ich protokolliere lieber in eigener Person, Herr Oberamtmann.«
    Wieder musterte Schäffer ihn aus halbgeschlossenen Augen. »Recht so. Es gibt Pflichten, die man sich abringen muss, nicht wahr?«
    Grau zwang sich zu einem undeutlichen Ja.
    Schäffer gähnte. »Wie macht sich denn der Eyt?«
    Die Frage traf Grau wie ein überraschend abgeschossener Pfeil. Es war ihm bewusst, dass Schäffer mit Eyt einen hilfsbedürftigen Verwandten ins Amt geholt hatte und dass er nun jedes Wort abwägen musste, um den Förderer nicht in Verlegenheit zu bringen. »Recht gut«, sagte er vage.
    »Er lernt dazu, nicht wahr? Er ist ja noch sehr jung.«
    »Gewiss«, erwiderte Grau.
    Schäffer flocht seine Hände ineinander und betrachtete sie nachdenklich. »Man wird daran denken müssen, ihm ein festes Gehalt zuzusichern.«
    Grau nickte.
     
    Es war ein trüber Morgen, als Dieterle mit gefesselten Händen ins Verhörzimmer geführt wurde. Die Behördenvertreter saßen schon auf ihren gewohnten Stühlen, Grau beugte sich tief über sein Protokollbuch. Durch die offene Tür kam Regengeruch; Dieterles Haare waren feucht und kringelten sich über der Stirn. Er trug viel zu große Holzpantinen, die man ihm aus dem Gefängnisbestand gegeben hatte, sie zwangen ihn zu einem Schlurfen, das ihn um Jahre älter machte. Schäffer ließ ihm als Erstes die Fesseln abnehmen; er wusste, dass die beiden Wachsoldaten, die zu beiden Seiten der Tür postiert waren, jeden Fluchtversuch vereiteln würden. Der Oberamtmann wirkte unausgeschlafen und mürrisch. Die Tränensäcke unter seinen Augen zeichneten sich überdeutlich ab, seine Amtsperücke saß nachlässiger als sonst. Zum Jungen, der am

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