Räuberleben
anderen Tischende stand und auf den Boden starrte, war er zunächst ausgesprochen höflich. Er ließ sich auch durch Dieterles Schweigen nicht beirren, fragte, sekundiert von den zwei Beisitzern, mehrmals nach seinem vollständigen Namen und stellte schließlich fest, dass es sich bei ihm zweifelsfrei, weil von mehreren Zeugen bestätigt, um Johann Christoph Reinhardt, genannt Dieterle, handle, geboren in Hohenhaslach und leiblicher Sohn des Jakob Reinhardt und der Katharina Frank. Er gleiche doch seinem Vater Hannikel sehr, sagte Schäffer. Das brachte Dieterle dazu, kurz aufzuschauen und ein Nicken anzudeuten. Er fuhr sich mit der Zunge über die gesprungenen Lippen. Schäffer wies einen »Wärter an, ihm ein Glas Wasser zu bringen, das Dieterle in einem Zug austrank. Eine Weile noch ging es weiter mit Fragen zu den Mitgliedern der Sippe, ihren Aufenthaltsorten und Schlupfwinkeln. Nun sagte Dieterle ab und zu, beinahe unverständlich: »Ich weiß es nicht mehr.« Nach über einer Stunde hatte Grau noch keinen Anlass gehabt, im Protokoll etwas anderes zu vermerken als: Inquirierter schweigt dazu. Oder: /. verweigert die Auskunfl.
»Wir meinen es gut mit dir«, sagte Schäffer zu Dieterle, und doch war nun bereits deutliche Ungeduld in seiner Stimme zu hören. »Aber die Wahrheit soll und muss ans Licht kommen. Dein Vater Hannikel hat, mit Gottes Hilfe, einige schlimme Taten gestanden, auch deine Mutter hat ihn dazu gedrängt, und es scheint, dass er seine Verbrechen bereut.« Schäffer stand auf und ging um den Tisch herum auf Dieterle zu, der alarmiert zum Fenster und zur Tür schaute, als suche er, trotz der Bewachung, nach einer Fluchtmöglichkeit.
»Was wir immer noch nicht genau wissen«, fuhr Schäffer fort, »das ist, wie sich die Geschichte mit Toni abgespielt hat. Wir wissen, dass du dabei warst, und wir wollen von dir erfahren, woran du dich erinnerst.«
Grau sah, dass Dieterle erstarrte wie im Gefängnishof, gleichzeitig öffnete er den Mund, ohne dass ein Laut herauskam.
Noch näher trat Schäffer zu ihm hin. »Jetzt sag uns, Dieterle, wer hat dem Toni die Nase abgeschnitten? War es dein Vater? War es Hannikel selbst?«
Dieterle schüttelte den Kopf und stieß seinen ersten zusammenhängenden Satz hervor, mit rauher Kinderstimme und beinahe schreiend, so dass alle im Zimmer zusammenzuckten: »Nein, nicht der Vater, er war es nicht!«
»Wer war es denn?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Kannst du dir«, fragte Schäffer nun laut und gebieterisch, indem er Dieterle unter den Achseln packte und hochhob, »etwas Scheußlicheres vorstellen, als einem hilflos daliegenden Menschen die Nase abzuschneiden?« Er sagte es dem Jungen mit scharf betonten Endsilben ins Gesicht; dann stellte er ihn hart auf den Boden zurück.
Dieterle - Grau entging keine seiner Regungen - ballte die Fäuste und atmete schwer, doch gleich ließ er die Arme wieder sinken.
Schäffers Stimme wurde noch drohender. »Ein Bein habt ihr dem Toni zertrümmert, ihm den Schädel gespalten. Und trotzdem hat er unter fürchterlichen Schmerzen noch bis zum nächsten Mittag gelebt. Sag mir, Johann Christoph: Ist das recht getan? Kann Gott das gefallen haben? Und du hast dabei einfach zugeschaut? Was sagt denn deine Mutter dazu?«
Dieterle rang sichtbar mit sich, schüttelte den Kopf. »Es ist nicht recht getan«, kam es mit größter Mühe aus ihm heraus, »wir hätten es nicht tun sollen … Aber ich weiß nicht mehr, wer ihm was angetan hat…«
»Doch«, schrie Schäffer ihn an, »das weißt du! Heraus mit der Sprache!« Ganz unerwartet schoss seine Hand vorwärts, packte ein Büschel von Dieterles Schläfenhaar und riss kräftig daran. »Sag es jetzt!«
Grau wäre am liebsten aufgesprungen und dazwischengetreten, die eigene Schläfe brannte ihn vom bloßen Zuschauen an tausend Punkten. Dieterle wimmerte und versuchte zurückzuweichen. Doch Schäffers Griff war zu fest.
»Ich weiß es nicht… ich weiß es nicht…«, beteuerte der Junge. »Es ging alles durcheinander… Alle haben geschrien… und wollten sich noch übertreffen, um Toni zu strafen… weil er doch dem Wenzel die Mantua weggenommen hatte…«
»Das ist uns bekannt«, unterbrach ihn Schäffer. »Und es ist kein Grund, jemanden umzubringen. Was weißt du noch?«
»Ich weiß nur, dass ich… ich selbst…« Immer noch kämpfte Dieterle um die Beherrschung; aber aus seinen Augen flossen die ersten Tränen.
»Du selbst?«, fragte Schäffer und ließ den Jungen endlich
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