Räuberleben
los. Der griff sich an die schmerzende Schläfe, seine knochige Brust hob und senkte sich.
»Ich habe…«, sagte er unter Schluchzern, »ich habe… ich habe einen Kübel mit Mistwasser gefüllt … da gab es einen Misthaufen ganz in der Nähe, beim Bauernhof… und ich habe die Jauche über Toni ausgeleert… über die Stellen, die geblutet haben…«
»Hat dir jemand befohlen, das zu tun? Dein Vater?«
»Es ist mir… von selbst in den Sinn gekommen…« Sein Weinen wurde kindlicher, die Tränen tropften nun auf seinen Hemdkragen, seit Minuten hatte Grau kein Wort mehr geschrieben.
»Du wolltest wohl einfach dazugehören?«, fragte Schäffer den Jungen, nun wieder mit einer Freundlichkeit, die Grau gespielt und deshalb widerwärtig erschien. »Du wolltest mit dieser Unmenschlichkeit den anderen imponieren?«
Dieterle verstand offensichtlich das letzte Wort nicht; er schwankte leicht, stützte sich mit beiden Händen auf der Tischkante ab und wusste keine Antwort.
»Mit Verlaub, Herr Oberamtmann.« Das war die Stimme Graus, ein wenig zittrig zwar, aber deutlich genug; er hörte sie selbst mit Staunen. »Mit Verlaub, dieser Junge ist doch ein verführtes Kind, es wäre besser, die Befragung jetzt abzubrechen, ich bitte darum.«
Dieterle schien diese Einmischung gar nicht wahrzunehmen; er kämpfte darum, sich aufrecht zu halten. Aber verwundert, ja verstört blickten die Beisitzer, der Amtsdiener, die Wärter zu Grau, als ob seine Gegenwart ihnen erst jetzt auffiele. Schäffer, der immer noch bei Dieterle stand, stutzte, seine Lider begannen zu flattern, dann flog eine Röte über sein Gesicht, und er hieb mit der Faust auf den Tisch. »Was unterstehen Sie sich, Schreiber Grau! Ich habe nicht nach Ihrer Meinung gefragt! Maßen Sie sich ja nicht an, der Vormund dieses« - er deutete auf Dieterle - »dieses Individuums sein zu wollen.
Es gehört zu einer traurigen Gattung Mensch, ob schuldlos oder nicht. Uns hat es zu interessieren, bei welchen Missetaten seines Erzeugers und seines Stamms Johann Christoph Reinhardt zugegen war und zu welchen er selbst beigetragen hat.«
Ein Beisitzer, Plocher, ein korpulenter Mann mit stark vorstehenden Zähnen, applaudierte, indem er die Fingerspitzen gegeneinanderschlug. Grau wäre am liebsten im Boden versunken. Beschämt bedeckte er mit der Hand seine Augen; dass Dieterle sich mit aller Kraft am Tisch festhielt, wollte er nicht länger sehen.
Das Verhör ging weiter. Immerhin gestattete Schäffer dem Inquirierten jetzt, sich zu setzen, sogar ein Kissen ließ er herbeibringen, damit Dieterle hinter dem Tisch nicht so klein wirkte. Er bekam zu trinken; und gegen Mittag ordnete Schäffer eine halbstündige Pause an, eine längere als sonst. Dem Vernehmen nach wurde Dieterle eine Suppe vorgesetzt, die er indessen nicht anrührte. Grau blieb, wo er war, und nützte die Zeit dazu, das Protokoll dort, wo Lücken bestanden, aus dem Gedächtnis nachzuführen. Schreibend vertilgte er eine Scheibe Brot, die mit ein wenig Schmand und Radieschenscheiben belegt war. Deren Schärfe tat ihm gut, sie entsprach seinem Zustand, der zwischen Auflehnung und bitterer Ergebung schwankte.
Der Nachmittag zog sich in die Länge. Dieterles Widerstand war inzwischen so weit gebrochen, dass er auf alle Fragen eine Antwort suchte, es waren wohl auch erfundene darunter, zusammengewürfelte, und nichts war wirklich von Belang oder warf ein neues Licht auf die Geschehnisse. Schäffer jedoch schien es am wichtigsten zu sein, dass der Junge sich nicht länger verweigerte. Es war nicht zu übersehen, dass Dieterle von Zeit zu Zeit - bewusst oder unbewusst - an seine Schläfe griff. Manchmal erstarb ihm die Stimme, und er brauchte eine Erholungszeit, bis er wieder verständliche Laute über die Zunge brachte.
Dieterle wurde abgeführt, seine Holzschuhe knarrten übers Parkett. Schäffer kratzte sich unter der Perücke und trat ans Fenster. Grau, der ihm mit dem Blick folgte, sah das gegenüberliegende Gebäude in stumpfem Licht, die Fassade wirkte leer und grau, die Fensterscheiben spiegelten nichts vom Wolkenhimmel.
Man brach auf. Am Ausgang stieß Grau, den Blick auf den Boden gerichtet, beinahe mit Schäffer zusammen; um ein Haar hätte er den Folianten, den er unter den Arm geklemmt hatte, fallen lassen.
»Stets in Gedanken, der liebe Grau«, sagte Schäffer, und erstaunlicherweise klang es wie eine Neckerei.
»Verzeihung«, murmelte der Schreiber, unfähig, Schäffers Ton aufzunehmen.
Sie gingen
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