Räuberleben
zielte. Seit einiger Zeit verstieg sie sich hin und wieder zu Andeutungen, aus denen er offensichtlich ihre Bereitschaft zu einer näheren Verbindung lesen sollte. Es war noch nicht lange her, da hatte ihn ein älterer Nachbar, den er sonst zu übersehen pflegte, darauf angesprochen. Eine Eheschließung wäre doch, hatte er gesagt, in ihrer beider Situation das Naheliegende; das würde auch, fügte er mit einem Zwinkern hinzu, auf einen Schlag alle umlaufenden Gerüchte beseitigen. Grau hatte versucht, höflich zu bleiben, er hatte etwas Ausweichendes gemurmelt und den Mann stehen lassen. O Gott, das Letzte, was er wollte, war eine Heirat mit seiner Zimmerwirtin. Überhaupt konnte er sich nicht vorstellen, eine neue Ehe - mit wem auch immer - einzugehen. Noch einmal alles von vorn, die Geburten, die Fiebernächte womöglich, der todtraurige Abschied? Nein, nein! Auch wenn die Witwe Schlosser schon zu alt war für eigene Kinder, so würde er die hitzige Nähe unter derselben Decke nicht mehr ertragen. Er war keineswegs frei von gelegentlichem Begehren, doch die korpulente Wirtin löste keine solchen Regungen in ihm aus, nicht einmal, wenn sie ihm, unter dem Vorwand der Häuslichkeit, ein kühnes Dekollete zeigte.
Sie schauten einander an. Einen einzigen Schritt hatte die Witwe auf ihn zugemacht, die rotgeschwollenen Hände hatte sie halb erhoben, als greife sie nach etwas Unsichtbarem. Grau ließ eine Anstandspause verstreichen, dann stemmte er sich vom Stuhl hoch. »Ich bitte Sie, mich jetzt zu entschuldigen.« Sie nickte stumm, drückte sich sogar an die Wand, damit er an ihr vorbeikam, ohne sie zu streifen. Auf ihrem Gesicht lag plötzlich eine Trauer, die er wohl bemerkte, aber nicht verstehen wollte. Er nahm sich vor, das Kostgeld für die Witwe Schlosser um ein paar Kreuzer zu erhöhen; er hatte keine andere Möglichkeit, sich vom Dank, den sie forderte, loszukaufen.
Sich ins eigene Zimmer zurückzuziehen war bisweilen eine Erlösung, genauso, wie es andere Male einer Selbstbestrafung nahekam. Und vielleicht war es heute sogar beides. Er ließ sich rücklings aufs Bett fallen, er zog, noch in den Kleidern, die Decke über sich. Was der Tag ihm zugemutet hatte, war zu viel gewesen. Wie gerne hätte er sich jetzt in den Schlaf geflüchtet. Aber es war, sogar bei geschlossenen Fensterläden, noch zu hell, er hörte Kinderstimmen draußen, Amselgesang. In betäubendem Durcheinander dachte er an Schäffer, an Dieterle, an die Witwe Schlosser, dann auch an Sophie, seine Cousine Klara. Ihm kam es vor, als zerrten und rissen sie an seinen Gliedern; so musste es auf der Streckbank sein. Um sich abzulenken, suchte er nach einem Reim für diesen Tag. Hannikel Tunichtgut, fiel ihm ein, Schäffer blasses Blut, auf der Hut vor Judenbrut. Es war lächerlich und sinnlos, aber er kritzelte die Worte auf einen Zettel, versteckte ihn dann bei den anderen im Umschlag. Niemand durfte dieses kindische Zeug je lesen, niemand!
Später, gegen zehn Uhr, klopfte die Zimmerwirtin an die Tür und fragte, ob der Waschkrug noch gefüllt sei. Grau antwortete nicht.
Stuttgart, Schloss Hohenheim, 12. Juli 1787
Es ging gegen Abend. Vor einer halben Stunde war der Herzog, aus der Stadt kommend, in Hohenheim eingetroffen und hatte gleich sein Arbeitszimmer in der Meierei aufgesucht, die er vorläufig noch mit Franziska bewohnte, bis das Gebäude dem geplanten Neubau weichen würde. Er hatte die Dienerschar weggeschickt, er wollte allein sein. Nun stand er am halboffenen Fenster und blickte hinaus in den Garten, den er nach Franziskas Wünschen hatte anlegen lassen. Mit kleinen Bächen, die allerdings in der Julihitze beinahe versiegt waren, mit schmalen Wegen, die sich durchs Gras schlängelten, wo er doch das Gerade liebte, die Geometrie. Ein ganzes Dorf, ein Dörfle, sollte noch entstehen, alles bunt gemischt zwischen nachgebauten römischen Ruinen und dekorierten Heuwagen. Mit einer Köhlerhütte, einem Rathäuschen, einer Wirtschaft en miniature, da konnte man später die Karlsschüler, als Bauern verkleidet, zu seinem Geburtstag antreten lassen.
Auch das fand sie allerliebst, seine Franziska, sein Franzele. Er tat alles für sie, fast alles; und trotzdem war sie so oft auf ihre insistierend schmollende Weise unzufrieden mit ihm. Es würde auch an diesem Abend nicht anders sein.
Der Herzog schwitzte, die hereinströmende Luft, von der er sich Kühlung versprochen hatte, heizte den Raum nur noch stärker auf. Er zog seinen viel zu
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