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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Hartmann
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Schritte hinter dem Oberamtmann in Amtstracht her, der seinerseits von Stadtschreiber Zennek und dem Bürgermeister Nestle flankiert war. Dieser Gruppe folgten etliche Soldaten; vor ihr zogen mit schwarzen Schabracken geschmückte Pferde den Leiterwagen, auf dem die Verurteilten saßen, begleitet von acht evangelischen Geistlichen, die abwechselnd beteten oder den Todgeweihten Mut zusprachen. Auf einen zweiten Wagen hatte man Frauen und Kinder geladen, die zu Hannikels Sippschaft gehörten, darunter Käther und Dieterle. Sie mussten stehen, hielten sich, zum Gaudium derer, die den Weg säumten, aneinander und an den Sprossen fest, wenn es einen starken Ruck gab. Grau hörte sie jammern und schreien. Dieterle drückte sich an Käther und verbarg so sein Gesicht. Dennele sah der Schreiber erst nicht und merkte dann, dass sie am Boden kauerte und sich klein machte. Eine Frau raufte sich die Haare aus; in kleinen Büscheln kreiselten sie dem Boden entgegen oder wurden vom Wind weggetrieben, ins Zuschauerspalier hinein. Grau sah, dass die Kopfhaut der Frau - war es Urschel? - stark blutete, Blut rann ihr ins Gesicht.
    Die letzte Strecke mussten die Verurteilten zu Fuß zurücklegen, sie kamen, da ihnen Füße wie Hände lose aneinandergebunden waren, nur mit großer Mühe voran, stolperten oft und schwankten. Die Sonne stand nun schon hoch; von Minute zu Minute wurde es schwüler. Ein Ring von hundertfünfzig Milizsoldaten umgab den Richtplatz. Grau gehörte nicht zu denen, die sich setzen durften, so stand er denn, neben dem Amtsdiener Roth, in der vordersten Reihe und kämpfte gegen die zunehmende Übelkeit. Vom gewaltigen, an- und abschwellenden Gesumm der Zuschauermasse hoben sich bisweilen laute Einzelstimmen ab, Gelächter, Töne des Hannikelliedes: Euch lieben Leuten zu gefallen, / erzähl ich, wer Hannikel war, / und leg von seinen Taten allen / euch hier die schauervollsten dar. Dem Hauptübeltäter war ein Stuhl vorbehalten, auf dem er zusehen musste, wie seine drei Getreuen die Leiter hochkletterten, ihren Kopf in die Schlinge steckten und zu Tode gebracht wurden. Er redete ununterbrochen; ob auf Deutsch oder in der Zigeunersprache, war nicht zu verstehen. Er bete, hieß es ringsum, nein, er verfluche die Richter, er fordere die Seinen auf, seinen Tod zu rächen. Der Schreiber Grau glaubte zu sehen, dass auf der anderen Seite des Blutgerüsts, wo die Sippschaft stand, Dieterle die Lippen bewegte. Grau wäre lieber anderswo gewesen, an einem Waldrand, mit Blick auf sanfte Hügel, wo er nicht zu sehen brauchte, wie Notteles Beine zappelten, nachdem der Scharfrichter die Leiter weggestoßen hatte. Er schloss die Augen, und es wurde plötzlich so still, dass er das Summen der Honigbienen in der Luft, apis mellifera, zu hören glaubte. Oder vielleicht waren es Wespen, Kuckuckswespen, gar Hornissen. Wenn man die Toten lange hängen ließ, würden die Fliegen kommen und sich schwarmweise am Aas laben. Wie können wir, hatte er kürzlich seinem Mentor Fabricius geschrieben, in jenen Insekten, vor denen uns graust oder die uns schaden, die Güte Gottes erkennen? Unsere Sicht ist beschränkt, hatte der Professor geantwortet, wir müssen noch fleißiger die Zusammenhänge der Natur erforschen, um zu lernen, dass eins ohne das andere nicht bestehen kann.
    Die Stille über dem Richtplatz hielt an, dann das Geräusch der fallenden Leiter, das Aufseufzen von Tausenden, Triumphgeschrei. Dies musste Hannikels Tod gegolten haben. Grau öffnete die Augen erst, als der Lärm wieder verebbte und man das Schluchzen der Hinterbliebenen hörte. Einer alten, ganz verschrumpelten Frau, die zusammengesunken war, half man auf die Beine, es war die Geißin, Hannikels Mutter. Grau hatte sie bisher übersehen und nicht gewusst, dass man auch sie, wie Dieterle und die anderen Kinder, zur Zeugenschaft gezwungen hatte. Da hingen sie nun zu viert an ihren Stricken: Duli, Wenzel, Nottele und ihr Hauptmann Hannikel, mit heraushängenden Zungen, die verfärbten Gesichter verzerrt, dunkel gefleckt die Hosen. Sie warfen im diesigen Licht stark verkürzte Schatten auf den Boden. Der Amtsdiener Roth spöttelte, die Erhängten hätten sich im Todeskampf entleert, am Ende des Lebens kehre man also zur frühen Kindheit zurück. Grau sagte nichts dazu, Roths verbitterte Ironie missfiel ihm noch mehr als sonst.
    Dunkle Wolken hatten sich inzwischen zusammengezogen. Man musste - zur Unzeit, da doch erst Mittag vorbei war - mit einem Gewitter rechnen. Die

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