RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
banales Beispiel für die Dinge anführen, die ich schlucken muss: Wir sind irgendwo auf der Welt in einem Hotel und verabreden, uns um eine bestimmte Zeit am Auto zu treffen, um zum Training zu fahren. Er kommt eine Viertelstunde zu spät, aber ich sage nichts. Wenn ich jedoch das nächste Mal eine Viertelstunde zu spät zu einer Verabredung komme, beschwert er sich, dass es so nicht weitergehen könne.
Ein weiteres Beispiel: Während eines Matchs höre ich ihn vor einem Aufschlagreturn sagen: »Spiel aggressiv!« Damit meint er, ich soll den Ball hart zurückschlagen. Wenn ich es versuche und der Ball ins Aus geht, erklärt er: »Das war nicht der richtige Moment.« Aber es war der richtige Moment; nur habe ich zufällig den Schlag verpatzt. Wäre der Ball im Feld gelandet, hätte er gesagt: »Perfekt!«
Es gibt noch eine andere Geschichte, die er während der US Open einem Reporter erzählte. Es ging um eine Begebenheit, die sich fünf Jahre zuvor in Shanghai ereignet hatte. Als wir im Aufzug zum Abendessen hinunterfuhren, machte Benito mich darauf aufmerksam, dass die Kleiderordnung im Restaurant lange Hosen verlangte. Ich trug Shorts, aber Benito sagte: »Ach, mach dir keine Gedanken. In Anbetracht dessen, wer du bist, werden sie sicher keinen Ärger machen.« Nach Tonis Version der Geschichte erklärte er Benito: »Du gibst meinem Neffen ja ein schönes Beispiel!« Dann wandte er sich an mich: »Geh hinauf und zieh dich um.«
Ich streite nicht ab, dass dieses Gespräch mehr oder weniger so stattgefunden hat. Der Kern der Geschichte ist jedoch, dass Toni mich gar nicht hätte auffordern müssen, auf mein Zimmer zu gehen und mich umzuziehen. Diesen Entschluss hatte ich sofort gefasst, als Benito mich auf die Regeln des Restaurants aufmerksam gemacht hatte.
Aufgrund solcher Dinge war die Atmosphäre in unserem Team angespannter, wenn Toni da war, als wenn er nicht anwesend war. Ich verliere nie aus dem Blick, dass die fein austarierte Spannung unterm Strich meinem Spiel förderlich ist. Ich vergesse auch nicht, dass er niemals eine so starke Reaktion zum Guten wie zum Schlechten auslösen könnte, wenn ich nicht so großen Respekt vor ihm haben würde. Wenn ich mich ihm widersetze, so geschieht es, weil er es, glaube ich, herausfordert. Aber eines muss klar sein: Wenn wir uns streiten, ist das im Kontext eines gegenseitigen Grundvertrauens und einer tiefen Zuneigung zu sehen, die über viele Jahre des Zusammenseins gewachsen sind. Ich gönne ihm die öffentliche Anerkennung, die er bekommt. Es mag sein, dass er sie meinetwegen erhält, aber alles, was ich im Tennissport erreicht habe, alle Möglichkeiten, die ich hatte, bekam ich durch ihn. Ich bin ihm überaus dankbar, dass er von Anfang an so großen Wert darauf gelegt hat, mich mit beiden Füßen auf dem Boden zu halten und keine Selbstgefälligkeit zuzulassen.
Ich glaube nicht, dass mir der Erfolg zu Kopf gestiegen ist, und wenn es bis jetzt nicht passiert ist, bezweifle ich, dass es noch passieren wird. Ich brauche diese Lektionen in Bescheidenheit nicht mehr. Ich habe es nicht mehr nötig, dass man mir sagt, ich müsse »Haltung bewahren«. Wenn ich auf dem Platz etwas vermassele, dann gehört das zum Spiel. Ich stehe mir selbst so kritisch gegenüber, wie es nur geht. Tonis Weigerung, mich vom Haken zu lassen, hat zwar insofern ihren Wert, als er mich drängt, mich ständig zu verbessern, aber sie kann auch von Nachteil sein, weil er mich damit verunsichert. Häufig bin ich tatsächlich unsicher, vor allem in den ersten Runden eines Turniers. Toni hat zwar erheblichen Anteil an vielen guten Seiten meiner Karriere, aber er ist auch schuld daran, dass ich unsicherer bin, als ich es sein sollte.
Das Komische ist, dass er in letzter Zeit dazu übergegangen ist, mir zu sagen, dass ich dazu neigen würde, mich zu unterschätzen. In Anbetracht von allem, was ich erreicht hätte, sei das schlichtweg verrückt. Vor einem Match gegen einen Gegner, der in der Weltrangliste weit unter mir steht, erklärt er mir neuerdings beispielsweise: »Nach allem, was du geschafft hast, wirst du jetzt ja wohl nicht vor diesem Spiel zittern, oder?« Oder er sagt: »Du bist seit Jahren die Nummer eins oder die Nummer zwei, aber du bist immer noch nicht überzeugt, dass du ein guter Spieler bist? Du hast immer noch Angst, wenn du gegen einen Burschen antrittst, der auf Nummer 120 rangiert? Herumzustolzieren, als ob das Spiel dir gehören würde, wäre albern, aber, komm schon,
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