RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
tippte und gerade zum Aufschlag ansetzte, schaltete der Schiedsrichter sich ein: »Zeitüberschreitung: Verwarnung, Mr Nadal.« Offenbar hatte ich zwischen den Ballwechseln zu viel Zeit verstreichen lassen und die zugelassene Spanne von 20 Sekunden bis zu meinem Aufschlag überschritten – eine Regel, die nur selten angewandt wird. Allerdings ist es eine gefährliche Regel. Denn sobald man die erste Verwarnung bekommen hat, führt jede nachfolgende Regelverletzung zum Punktabzug. Meine Konzentration war auf die Probe gestellt. Ich hätte Theater machen können. Die Zuschauer waren ebenso verärgert wie ich, das war zu spüren. Aber ohne auch nur eine Sekunde darüber nachdenken zu müssen, war mir klar, dass es nicht gut für mich wäre, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Damit hätte ich nur riskiert, meine Konzentration, dieses wichtige Kapital, zu verlieren. Außerdem lief das Spiel gerade gut für mich, und ich war nur noch zwei Punkte vom Gewinn des zweiten Satzes entfernt. Sofort schob ich jeden Gedanken an die Unterbrechung durch den Schiedsrichter beiseite und gewann den Punkt mit einem hervorragenden, für mich äußerst ungewöhnlichen Schlag: mit einem Rückhand-Cross-Slice, den er selbst mit einem Sprung ans Netz nicht mehr erreichte. Das war besonders befriedigend für mich, nicht nur wegen des wichtigen Punktgewinns, sondern weil ich trotz der vielen Turniere, die ich gewonnen habe, mein Spiel gern ständig verbessern möchte. Und der Rückhand-Slice war ein Spielelement, an dessen Verbesserung ich seit einer Weile gearbeitet hatte. Diesen Schlag haben nicht mehr allzu viele Spieler in ihrem Repertoire, weil Tennis heute durchgängig ein so schnelles Spiel ist, aber ich glaube, dass er mir einen Vorteil, eine zusätzliche Option verschafft, durch die ich den Spielrhythmus ändern und meinen Gegner vor neue Herausforderungen stellen kann. Aber dieser Schlag übertraf meine sämtlichen Erwartungen. Normalerweise ist der Rückhand-Slice ein Defensivschlag; aber der Ball, den ich gerade aus dem Hut gezaubert hatte, war einer der besten Gewinnschläge meines Lebens und verschaffte mir einen Satzball. Federer war sofort wieder da und schaffte den Einstand, aber ich fühlte mich nun auf der Höhe meines Spiels und zu allem fähig. Zwei weitere Male gab es einen Einstand, und er holte sich insgesamt drei Break-Bälle, aber schließlich gab er das Spiel und den Satz mit einem zögerlichen Rückhandschlag ins Netz ab. Es war ein vermeidbarer Fehler in einem entscheidenden Moment dieses Matchs, das von einer ungewöhnlich hohen Zahl an Gewinnschlägen geprägt war. Damit lag ich nun 6:4, 6:4 in Führung. Ein weiterer gewonnener Satz würde mich zum Wimbledonsieger machen.
Aber ich witterte den Sieg noch nicht. Ganz und gar nicht. Mein Gegner war schließlich Roger Federer, bei dem man nie nachlassen durfte. Zudem wusste ich, dass der Punktestand von 6:4 im zweiten Satz nicht gerechtfertigt war. Er hatte in diesem Satz insgesamt besser gespielt als ich. Er konnte durchaus weiter auf diesem Niveau oder sogar schlechter spielen und den nächsten Satz gewinnen. Mental mochte ich ihn besiegt haben, aber wenn ich hier nachlassen sollte, würde er mich schlagen. Mit einem Blick nach oben stellte ich fest, dass der Himmel sich verdunkelte. Es sah nach Regen aus. Eventuell musste die Fortsetzung des Matchs auf Montag verschoben werden. Was auch kommen mochte, ich würde damit leben können. Nach dem Spielstand lag ich 2:0 Sätze in Führung, aber nach meiner inneren Einstellung stand es nach wie vor 0:0.
DER CLAN
Sebastián Nadal musste sich wegen des Jacketts, das er trug, als er sich das Endspiel seines Sohnes in Wimbledon gegen Roger Federer 2008 anschaute, viele Sticheleien von seiner Familie gefallen lassen. Aber es war doch gar nicht sein Jackett, so beschwerte er sich. Als er vor Beginn des Matchs festgestellt hatte, dass er kein Jackett dabei hatte, hatte er den Pressesprecher seines Sohnes, Benito Pérez, gebeten, ihm eines zu besorgen. Benito hatte nur ein dunkelblaues Jackett mit silbernen Nadelstreifen auftreiben können, in dem Sebastián mit seiner dunklen Sonnenbrille aus dem von Erdbeer-und Cremetönen geprägten Rahmen des Centre Court herausgefallen und wie ein drittklassiger sizilianischer Mafiaboss gewirkt hatte. So beschrieben ihn jedenfalls seine Brüder, und selbst ihm fiel es schwer, diesem Eindruck zu widersprechen.
In gewisser Weise war dieser Gangsterlook nicht ganz
Weitere Kostenlose Bücher