RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
gilt für mich nicht. Es entspricht nicht meiner Vorstellung vom Leben. Tennis ist meine Passion, aber ich sehe diesen Sport auch als Beruf, als meine Arbeit, die ich so gut und ordentlich zu erledigen versuche, als ob ich in der Glasfirma meines Vaters oder der Möbeltischlerei meines Großvaters beschäftigt wäre. Und wie jeder Job bringt er viel Schinderei mit sich, so groß der finanzielle Lohn auch sein mag. Ich habe selbstverständlich das große Glück, zu den wenigen Menschen auf der Welt zu gehören, denen ihr Job Spaß macht und die dafür auch noch außergewöhnlich gut bezahlt werden. Das verliere ich nie aus dem Blick. Aber letzten Endes bleibt es dennoch Arbeit. So sehe ich es jedenfalls. Ansonsten würde ich nicht so hart trainieren und das Training mit der gleichen Ernsthaftigkeit, Intensität und Konzentration betreiben wie ein Match. Training ist kein Spaß. Wenn meine Familie oder Freunde vorbeikommen und zusehen, wie ich mit Toni oder einem Profispieler trainiere, den sie kennen, bin ich nicht zu Scherzen oder einem Lächeln aufgelegt. Sie verhalten sich dann ebenso still wie die Zuschauer in Wimbledon, wenn ich mich einschlage.
Aber ich muss auch mal abschalten, mich amüsieren, bis spät in die Nacht feiern, mit meinen Cousins, die alle jünger sind als ich, Fußball spielen oder angeln, was das ideale Mittel gegen den hektischen Tennisstress ist. Meine Freunde zu Hause bedeuten mir sehr viel, und wenn ich abends nicht mit ihnen in unsere Lieblingsbars in Manacor oder Porto Criso ginge, würde ich diese Freundschaften verlieren oder zumindest vernachlässigen. Das wäre nicht gut, denn wenn man glücklich ist und sich gut amüsiert, wirkt sich das positiv auf das Tennisspiel, das Training und die Matchs aus. Sich guten Freuden zu versagen wäre kontraproduktiv. Am Ende wäre man nur verbittert, würde das Training und sogar das Tennisspielen hassen oder seiner überdrüssig werden. Ich weiß, dass es manchen Spielern so ergangen ist, die das Prinzip der Selbstverleugnung als Profi zu weit getrieben haben. Nach meiner Einschätzung kann man alles machen, muss aber immer für Ausgewogenheit sorgen und darf nie aus den Augen verlieren, was wichtig ist. Unter besonderen Umständen könnte ich sogar schon mal ein Vormittagstraining ausfallen lassen und stattdessen am Nachmittag trainieren. Aber die Ausnahme darf nicht zur Regel werden. Du kannst durchaus einmal nachmittags trainieren, aber nicht drei Nachmittage in Folge. Denn dann wird das Training in deiner Einstellung sekundär, hat nicht länger Priorität, und das ist der Anfang vom Ende. Dann kannst du dich gleich darauf einstellen, deine Profikarriere aufzugeben. Die Bedingung für den Spaß, den du dir erlaubst, ist die, dass du an deinem Trainingsprogramm festhältst: Das ist nicht verhandelbar.
Allerdings trainiere ich heute nicht mehr so viel wie mit 15 oder 16 Jahren. Damals trainierte ich täglich viereinhalb bis fünf Stunden, teils mit Toni, aber auch viel mit meinem Fitnesstrainer Joan Forcades. Er ist ebenfalls Mallorquiner und entspricht überhaupt nicht dem Bild des muskelbepackten Feldwebels mit kahl rasiertem Kopf, das man zuweilen von einem Vertreter seines Berufs hat. Wie Toni wurde er 1960 geboren, ist ein gebildeter Mann, ein passionierter Leser und Filmkenner, dem pro Minute hundert Gedanken durch den Kopf schießen und der sein langes Haar zu einem Pferdeschwanz bindet. Er hat jede wissenschaftliche Abhandlung gelesen, die es auf seinem Fachgebiet gibt, und eigens für mich ein Programm entwickelt, das jeden Aspekt meines Tennisspiels stärken soll. Als er sich bei mir als Teenager (wir arbeiten seit meinem 14. Lebensjahr zusammen) um den Muskelaufbau kümmerte, ging es nicht darum, mir den Körper eines Bobybuilders zu verschaffen oder mich auf die Anforderungen eines Läufers vorzubereiten. Zu trainieren wie ein Sprinter oder Langstreckenläufer funktioniert im Tennis nicht, weil es kein »linearer« Sport ist, wie Forcades es nennt. Tennis ist ein intermittierendes Spiel, das vom Körper verlangt, über lange Zeit abwechselnd explosiv zu sein, zu sprinten und zu stoppen. Forcades meint, ein Tennisspieler sollte sich den Kolibri zum Vorbild nehmen, das einzige Tier, das unendliche Ausdauer mit hoher Geschwindigkeit verbindet und über vier Stunden hinweg bis zu 80 Flügelschläge pro Sekunde ausführt. Wir trainierten also Muskeln nicht um der Muskeln willen, denn das wäre kontraproduktiv, weil man im Tennis ein
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