RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
Emotionen die Oberhand über die Vernunft bekamen. Ich war nicht ausreichend darauf vorbereitet, der unausweichlichen Nervosität und Anspannung die nötige mentale Ruhe entgegenzusetzen.
Diese Ruhe würde ich nun brauchen, denn der nächste Satz sollte das werden, was wir in Spanien einen »Herzanfallsatz« nennen. Ein flüchtiger Blick hinauf zu meiner Familie zeigte mir, dass sie wie erstarrt vor Sorge waren und an 2007 dachten. Auch ich erinnerte mich daran, aber nun auf konstruktive Art. Ich hatte meine Lektion gelernt und fühlte mich in der Lage, sie umzusetzen. Daher ging ich geschmeidig, locker und siegesgewiss in den fünften Satz. Meine verpatzte Chance im vierten Satz hatte mich stärker, nicht schwächer gemacht, denn ich würde nicht wieder so einknicken und beim Aufschlag einen ängstlichen Doppelfehler produzieren. Ich würde nicht daran denken, gleich das ganze Match, sondern nur den jeweiligen Ballwechsel zu gewinnen. Ich würde mich von meinem Instinkt leiten lassen und die Tausenden Stunden an Erfahrung ganz von selbst ins Spiel einfließen lassen.
Als ich Federer zwei Jahre zuvor bei den French Open besiegt und im ersten unserer drei Wimbledon-Finals gegen ihn verloren hatte, war es für mich wahrscheinlicher, dass er im Roland-Garros-Stadion seinen vierten Grand-Slam-Sieg erringen, als dass ich jemals hier auf dem Centre Court siegen würde. Seit 2006 war ich ihm in der Weltrangliste mit dem zweiten Platz auf den Fersen geblieben, aber nie dicht genug an ihn herangekommen. Diese Zeit war weniger von großen Sprüngen nach vorn geprägt als davon, mit ihm Schritt zu halten. In den Jahren 2007 und 2008 hatte ich auf Sand großartige Läufe erlebt, zum dritten und vierten Mal die French Open gewonnen und bei diesem Turnier meine Dominanz ebenso unter Beweis gestellt wie Federer in Wimbledon. Besonders erfreulich war ein Rekord, den ich in meiner zweiten Heimat, Monte Carlo, aufgestellt hatte, als ich dort das Turnier 2008 als erster Profitennisspieler zum vierten Mal in Folge gewann. Nachdem ich Federer im Finale 7:5, 7:5 geschlagen hatte, wollte ich unbedingt so schnell wie möglich nach Hause. So sehr ich Monte Carlo auch mochte, wollte ich nicht noch eine Nacht dort bleiben, sondern so rasch es ging nach Mallorca fliegen. Die einzige Möglichkeit war ein Billigflug nach Barcelona und ein Anschlussflug nach Palma. Ich erinnere mich noch gut an die verwunderten Blicke der anderen Passagiere am Flughafen in Nizza, als ich in den Wartebereich für die orangefarbene easyJet-Maschine kam. Sie waren überrascht, dass ich mich mit ihnen anstellte, um Essen und Getränke zu kaufen. Einer fragte mich, warum ich nicht mit einem Privatflugzeug flöge. Aber das liegt mir einfach nicht. Sicher könnte ich einen meiner Sponsoren dazu bewegen, mich durch die Welt zu fliegen, aber ich würde mich dabei nicht wohl fühlen. Es ist mir ein bisschen zu protzig, und außerdem möchte ich meine Beziehung zu den Sponsoren nicht ausnutzen. Als wir aber an Bord des Flugzeugs gingen und ich mich abmühte, den klobigen, breiten Monte-Carlo-Pokal in das Gepäckfach über meinem Sitz zu bugsieren, fragte ich mich doch für einen Moment, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Im Flieger herrschte lautes Gelächter und Beifall, während ich alles Mögliche probierte, meine Trophäe zu verstauen. Einer der Passagiere fragte mich, ob es außer Federer da draußen überhaupt ernstzunehmende Konkurrenten für mich gäbe. Ohne Zögern antwortete ich: »Novak Djokovic. Er wird uns in ein paar Jahren schwer zusetzen.«
Schon damals machte er mir zu schaffen. 2007 hatte ich ihn in Indian Wells besiegt und mein erstes Turnier auf amerikanischem Boden gewonnen, aber beim nächsten Turnier, den Miami Masters, verlor ich gegen ihn. Im selben Jahr hatte ich ihn im Halbfinale der French Open und im Halbfinale in Wimbledon geschlagen, bei den Canadian Masters, die er letztlich gewann, aber gegen ihn verloren. Ein Jahr später, 2008, verlor ich in Indian Wells gegen ihn, besiegte ihn aber in Hamburg und bei den French Open. Im Januar 2008 hatte er allerdings mit 20 Jahren bereits ein Grand-Slam-Turnier, die Australian Open, gewonnen. Alle richteten ihren Blick nach wie vor auf Federer und mich, aber uns beiden war klar, dass Djokovic der aufstrebende Star war, der für unser beider Dominanz gefährlicher werden konnte als jeder andere Spieler. Beunruhigend war zudem, dass er jünger war als ich. Das war für mich etwas Neues.
Weitere Kostenlose Bücher