Rage Zorn
Curtis einer Meinung â Valentinos Geisel zu
retten war wichtiger als alles andere. Damit verglichen war es unerheblich, welche Auswirkungen diese Geschichte auf ihr Leben hätte.
Um Stan noch weiter zu beschwichtigen, fuhr sie fort: »Du kannst beruhigt sein, mir wurden gehörig die Leviten gelesen, weil ich die Befehlskette nicht eingehalten habe. Du bist nicht der Einzige, der heute eins auf die Finger bekommen hat. Kann ich jetzt bitte weiterarbeiten?«
»Es war eine Armbanduhr mit eingebautem GPS.«
»Was?«
»Das Spielzeug, das ich mir heute gekauft habe.«
Sie lachte, während er ihr einen Kuss zuhauchte und die Tür öffnete. Ãber die Schulter hinweg sagte er: »Ach, übrigens hat sich Marvin krank gemeldet.«
»Krank?«
»Das Personalbüro hat mir eine Message auf die Mailbox gesprochen«, rief er ihr vom Gang aus zu. »Mehr weià ich auch nicht.«
Soweit ihr bekannt war, hatte sich Marvin noch nie krank gemeldet, das machte sie neugierig, welche Krankheit ihn wohl so unerwartet niedergestreckt hatte. Sie verschob das Postsortieren auf später und machte sich auf den Weg zur Kaffeeküche hinten im Gebäude.
Zu dieser abendlichen Stunde war das Gebäude still und nur schwach erleuchtet. Die Tagschicht war schon heimgegangen, die Büros waren dunkel. Paris war die Stille gewohnt, genau wie die Dunkelheit und den allgegenwärtigen Geruch nach Staub, der in elektronischen Geräten verkokelt war, nach verbranntem Kaffee und dem Teppichboden, der jahrezehntelang Tabakrauch geschluckt hatte, bis das Rauchen am Arbeitsplatz verboten worden war.
FM 101.3 gehörte und gehorchte der Wilkins-Mediengruppe, zu der fünf Zeitungen, drei Fernsehsender in einem Senderverbund, eine Kabelgesellschaft und sieben Radiosender zählten. Die Zentrale der Mediengruppe residierte in Atlanta in den obersten
drei Stockwerken eines schlanken, eleganten Wolkenkratzers mit gläsernen Aufzugkabinen und einem zwei Stockwerke hohen Wasserfall in der sterilen Granitlobby.
Das hiesige Sendegebäude, erworben von einem Bankrott gegangenen Vorbesitzer, war etwa so schlank und elegant wie ein Urzeitmammut. In ihrer Lobby gab es keinen Wasserfall, nur einen gurgelnden und gelegentlich leckenden Wasserspender.
Der unattraktive, ebenerdige Ziegelbau lag auf einem Hügel am Rande von Austin, mehrere Meilen von der Kuppel des State Capitols entfernt. Das Gebäude stammte aus den fünfziger Jahren und lieà das schon von weitem erkennen. Im Lauf der Jahrzehnte war es durch die Hände von zweiundzwanzig äuÃerst sparsamen Besitzern gegangen.
Weil die Station so heruntergewirtschaftet und billig wirkte, wurde sie von den hohen Bossen nach Möglichkeit übersehen â auÃer wenn die Zuhörerquoten verglichen wurden. Von der Erscheinung her war FM 101.3 eine unansehnliche Warze auf dem Hochglanzgesicht der Unternehmensgruppe. Aber sie hielt sich stabil in den schwarzen Zahlen und erwirtschaftete zuverlässig Gewinn.
Trotz seiner Mängel mochte Paris das Gebäude. Es hatte eine Seele. Es hielt sich wacker, trotz all seiner Narben.
Nach den dunklen Korridoren wirkte das flackernde Neonlicht in der Küche verschwenderisch grell. Sogar hinter den getönten Gläsern brauchten ihre Augen ein paar Sekunden, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Sie holte einen Teebeutel aus ihrer privaten Schachtel im Schrank und hängte ihn in eine Tasse voller Wasser, die sie dann in die antiquierte Mikrowelle stellte. Das Wasser hatte sich kaum zu verfärben begonnen, als sie Stimmen hörte.
Sie warf einen Blick in den Korridor und erblickte zu ihrer Verblüffung Dean, der hinter Stan herschlenderte. Stan bemerkte soeben: »Sie hat mir nicht erzählt, dass sie Besuch erwartet.«
»Sie erwartet mich nicht.«
Dann hatte Stan sie gesehen und sagte: »Er stand vorn am
Haupteingang. Ich habe ihn erst reingelassen, als er mir seine Polizeimarke gezeigt hat.«
Bemüht, sich ihre Fassungslosigkeit nicht anmerken zu lassen, sagte sie: »Dr. Malloy arbeitet bei der Polizei von Austin. Man hat ihn um ein psychologisches Gutachten über Valentinos Anruf gebeten.«
»Hat er mir schon gesagt.« Stan musterte Dean von oben bis unten. »Zwei zum Preis von einem. Bulle und Psychologe zugleich.«
»So in der Art.« Er lächelte gepresst.
Stan sah von ihm zu ihr, aber als keiner einen Ton sagte, begriff er
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