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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Polizeirevier war im ehemaligen Schulgebäude am westlichen Ende des Ortes untergebracht und hatte zwei Arrestzellen. Sein Büro, das einstige Klassenzimmer, teilte Bill sich mit Chief Hunter, der heute eigentlich freihatte. Am Wochenende wechselten sie sich mit ihren Diensten ab. Sylvie, die stundenweise als Reinigungs- und Schreibkraft und auf dem Revier arbeitete, kam nur von Montag bis Freitag.
    Obwohl er längst Feierabend hatte, holte der Sheriff einen Stapel Akten aus dem Schrank und platzierte sie auf seinem Schreibtisch. Er kochte sich einen starken Kaffee und machte es sich mit dem Becher und einer Zigarette im Drehsessel bequem. Weder sein Chef noch Sylvie duldeten, dass er im Büro rauchte – aber wenn er allein war, konnten sie es ihm nicht verbieten.
    Die Füße auf dem Schreibtisch, schlug er den ersten Ordner auf. Zwar konnte er sich an jeden dieser Vorfälle erinnern, aber nach dem, was heute Morgen am Kap passiert war, hatte er das Bedürfnis, die Details noch einmal nachzulesen.
    Angefangen hatte es vor zwei Jahren im Sommer. Auf dem unbefestigten Teil der Cape Flattery Road, der kürzesten Strecke, auf der man von Neah Bay zum Kap kam, war ein Baum umgestürzt und hatte beinahe ein Ehepaar aus Ohio in seinem Wagen erschlagen. Die beiden waren mit dem Schrecken und einer saftigen Geldbuße davongekommen, denn diese Straße war zwar frei für Fahrradfahrer und Wanderer, für Motorfahrzeuge aller Art jedoch gesperrt. Erst recht, wenn kein Makah hinter dem Steuer saß.
    Im Polizeibericht war das Ganze als Unfall festgehalten worden. In der Nacht zuvor hatte es einen Sturm gegeben, der – so wurde damals angenommen – die Wurzeln des Stammes gelockert hatte. Am Morgen war er dann über die Straße gekippt. Der Fahrer aus Ohio hatte nicht mehr rechtzeitig bremsen können und war auf den Stamm aufgefahren.
    Der Kaffee wärmte Bill von innen und er öffnete die oberen Knöpfe seines Uniformhemdes. Er klappte die erste Akte zu und schlug die nächste auf. Fünf Monate nach der Sache mit dem Baum war bei einem der Boote, die vom Museum aus Touristen zur Walbeobachtung hinaus aufs Meer fuhren, der Motor ausgefallen. Da es in Neah Bay und Umgebung keinen Handyempfang gab und der Bootsführer auch keine Funkverbindung herstellen konnte, war die kleine Gruppe Japaner halb erfroren, als sie endlich von einem Rettungsboot übernommen und in den Hafen von Neah Bay zurückgeschleppt wurden. Im Protokoll erschien das Ganze als Havarie. Und die mit dem Schrecken davongekommenen Japaner betrachteten die Angelegenheit als gelungenes Abenteuer im Indianerreservat.
    Was Bill las, gefiel ihm immer weniger. Im Licht des heutigen Vorfalls sahen die anderen Ereignisse nicht mehr wie Zufälle aus, sondern wie Sabotage. Der Sheriff nahm die Füße vom Tisch, setzte sich gerade hin und streckte seinen Rücken. Dann griff er nach der nächsten Akte. Im letzten Frühjahr war der Trailer eines Dauercampers unten am Hobuck Beach auf den Strand gerollt und die Flut hatte ihn mit Meereswasser und Sand gefüllt. Der Mann war zum Glück gut versichert gewesen.
    Das war etwa zwei Wochen vor Bills Rückkehr von der Polizeischule passiert. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, denn im Ort sprach man damals von nichts anderem und machte Witze darüber.
    Mit einem sorgenvollen Stirnrunzeln überflog er die letzte Akte. Vor ein paar Monaten hatte jemand vor Helmas Clamshell Motel die Reifen sämtlicher Wagen mit fremden Kennzeichen durchstochen. Vermutlich waren das einheimische Jugendliche gewesen, die ihren Lokalpatriotismus unter Beweis stellen wollten. Allerdings hatten sie dabei die Reifen eines Stammesangehörigen erwischt, der mit einem Leihwagen aus Seattle unterwegs war. Aber letztendlich hatte man sich im Ort auch darüber lustig gemacht.
    Der Sheriff klappte die Akte zu und sah aus dem Fenster. Draußen dämmerte es bereits und der Regen hatte zugenommen. Er fragte sich, ob die deutsche Frau tatsächlich in Helmas Motel eingecheckt hatte. Vielleicht hatten der morgendliche Schrecken und das miese Wetter sie ja auch abreisen lassen. Er beschloss, am Motel vorbeizufahren und es herauszufinden.
    Es war spät geworden, schon kurz nach sechs. Nicht, dass er noch irgendetwas geplant hätte an diesem Samstagabend – in Neah Bay war an den meisten Wochenenden nichts los. Und zu Hause wartete auch niemand auf ihn. Seit dem Tod seiner Mutter vor einem Jahr lebte Bill allein in seinem Haus am Rand von Neah Bay. Er hätte sich eine Frau

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