Rain Song
ein Bruder für dich. Du musst ihn am besten gekannt haben.«
Greg hob die Schultern. »Wie es aussieht, kannte ich nur einen Teil von ihm. Und du einen anderen.«
Er wusste sehr genau, worauf Hanna hinauswollte. Aber noch war er nicht bereit, die Worte zu sagen, die sie erwartete. Warum?, fragte er sich. Was hatte er zu verlieren?
Greg sah Hanna ins Gesicht, sah die Enttäuschung in ihren Augen, die immer dunkler wurden.
»Vielleicht sollten wir es zusammen versuchen«, brachte er endlich hervor.
Erstaunt öffnete sie den Mund. Er wartete darauf, dass sie etwas sagte, doch es kam kein Wort über ihre Lippen.
»Ich werde dir helfen«, sagte er entschlossen. »Jims Tochter zuliebe.«
Endlich rührte sie sich. »Danke, Greg«, sagte sie. »Ich wüsste nicht, was ich ohne deine Hilfe machen sollte.«
Er atmete tief durch und öffnete die Fahrertür seines Trucks. »Aber zuerst muss ich noch ein paar Dinge erledigen.« Er warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. »In einer halben Stunde habe ich im Museum ein Treffen mit einem potenziellen Auftraggeber. Ich kann dich vorher zum Strandhaus zurückbringen, wenn du möchtest. Aber vielleicht hast du ja auch Lust auf einen Besuch in unserem Museum?«
Hannas Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte. »Ich komme gerne mit«, sagte sie. »Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast, dass ich dich begleite.«
Greg Ahousat hatte nichts dagegen.
6. Kapitel
Es war Sonntagvormittag, aber als sie am voll besetzten Parkplatz vor dem Hafen vorbeifuhren, herrschte dort reges Treiben. Bootsanhänger wurden in Parklücken rangiert und überall standen Grüppchen bunt gekleideter Menschen. Wahrscheinlich hatte das etwas mit dem Bootstreffen zu tun.
Greg erzählte ihr, dass die neue Hafenanlage erst im vergangenen Jahr fertiggestellt worden war und nun zweihundert Liegeplätze bot – auch für größere Boote.
Die Makah meinten es also ernst mit dem Tourismus.
Kurz vor dem Ausgang des Ortes bog Greg auf den asphaltierten Parkplatz des Makah-Kultur-und-Forschungszentrums. Das große Museumsgebäude mit dem Holzschindeldach stand auf einem gut gepflegten Gelände mit beschnittenen Sträuchern und kurz geschnittenem Rasen.
An den Nummernschildern der anderen Autos erkannte Hanna, dass einige weit gereiste Besucher im Museum waren. Sie folgte Greg ins Gebäude, und während er mit seinen Auftraggebern, einem weißen Ehepaar mittleren Alters, verhandelte, sah sie sich in den erweiterten Museumsräumen um.
Das Zentrum mit seinem Museum war Ende der Siebziger erbaut worden, nachdem Winterstürme Teile der fünfhundert Jahre alten Siedlung Ozette freigelegt hatten. Wissenschaftler arbeiteten mehrere Jahre an der Ausgrabungsstätte am Strand – bis ihnen das Geld ausging. Tausende gut erhaltene Teile von Gebrauchsgegenständen, Werkzeuge, Schmuck und Kleidung waren unter einer Lehmschicht zum Vorschein gekommen. Genug, um damit ein eigenes, einzigartiges Museum auszustatten, auf das der Stamm der Makah sehr stolz war.
Hanna wagte kaum zu atmen, während sie die dicht geflochtenen und wunderschön verzierten Körbe betrachtete oder die getriebenen Armreifen aus Kupfer oder Silber, die von ungeheurem Wert waren. Die Schönheit alter Dinge faszinierte sie seit ihrer Kindheit. Für Hanna waren sie lebendige Zeugen der Vergangenheit, die auch nach Tausenden von Jahren noch deren Geschichte zu erzählen vermochten.
Vor ihrer Ausbildung zur Restauratorin hatte sie ein Jahr bei einer Schneiderin gearbeitet und sich nach dem abgeschlossenen Fachschulstudium um eine Anstellung am Völkerkundemuseum beworben. Dort arbeitete Hanna nun schon seit sieben Jahren. Vor Olas Geburt war sie häufig auf Kurierreisen zu Museen im Ausland geschickt worden, um Leihgaben aus den eigenen Beständen zu begleiten.
Während der letzten vier Jahre war sie für die wechselnden Ausstellungen im Museum verantwortlich. Wenn sie eine neue Ausstellung aufbaute und ein uraltes Exponat in den Händen hielt, durchströmte sie jedes Mal das herrliche Gefühl, an etwas Vergangenem teilhaben zu können. Sie liebte ihren Beruf. Und doch waren ihr seit einiger Zeit Zweifel an ihrer Arbeit gekommen.
Immer mehr Ureinwohner aus den unterschiedlichsten Ländern bemühten sich um die Rückgabe von Kultgegenständen oder wertvollen Stücken aus Familienbesitz, die nicht selten unrechtmäßig in den Vitrinen europäischer Museen gelandet waren. Unrechtmäßig bedeutete auch, wenn man von Menschen, die Not litten,
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