Rain Song
für wenig Geld etwas abkaufte, das für sie von hohem ideellem Wert war. Ganz zu schweigen natürlich von Grabräuberei oder der Beschlagnahmung von zeremoniellen Gegenständen.
War es nicht besser, wenn die Stücke dorthin zurückkehrten, wo sie ein Teil der Geschichte waren? Gehörten die Zeugnisse der Vergangenheit nicht jenen Menschen, deren Vorfahren sie geschaffen hatten und deren Geist in ihnen weiterlebte?
Gedankenverloren lief Hanna weiter durch die Ausstellung, betrachtete die großen Kanus aus Zedernholz und betrat das nachgebaute, fensterlose Langhaus, dessen Eingang den Blick auf ein Meeresdiorama mit zwei ausgestopften Seelöwen freigab. Sie setzte sich auf eine Bank, betrachtete das Innere der Behausung und lauschte für eine Weile dem Brüllen der Seelöwen und dem Rauschen der Brandung, das vom Tonband spielte. Schließlich setzte sie ihren Rundgang im Museum fort.
Vor einer großen Wolfsmaske blieb sie stehen. Die weißen Muschelzähne und die Spiegelaugen der Maske blinkten ihr im Dämmerdunkel der Museumsräume wie eine Drohung entgegen. Hili-kub stand auf dem weißen Schildchen vor dem Ungeheuer aus Zedernholz. Schwarz, weiß, rot bemalt und mit einer Mähne aus schwarzem Pferdehaar bestückt. Mit Sicherheit war sich der Hersteller der Maske ihrer unheimlichen Ausstrahlung bewusst gewesen. Die Spiegelaugen wirkten lebendig. Gleich würden die Zähne nach ihr schnappen.
Neben der Maske lag ein steinerner Dolch, in dessen schweres Ende ein Gesicht mit einem kreisrunden Mund eingraviert war. Sklaventöter stand auf dem Schildchen daneben.
Auf einmal bekam Hanna keine Luft mehr.
Die Ausstellungsräume des Museums waren fensterlos wie das Langhaus und man hatte sie absichtlich in einem diffusen Dämmerdunkel gehalten, um die alten Stücke nicht durch die UV-Strahlung des Tageslichts zu schädigen. Das Brüllen der Seelöwen, der Gesang von uralten Männerstimmen und das gleichmäßige Rauschen des Ozeans aus den Lautsprechern zerrten an Hannas Nerven. Sie stürzte an verwunderten Museumsbesuchern vorbei ins Freie, taumelte ein Stück über den kurz geschnittenen Rasen und lehnte sich an einen der beschnitzten Pfähle, die das Museumsschild trugen.
Unwillkürlich tasteten ihre Finger nach den eingekerbten Initialen im verwitterten Holz.
J. K.
Da waren sie. Ohne, dass Hanna es wollte, schossen ihr Tränen in die Augen. Tränen, die sie lange mit Gewalt zurückgehalten hatte. Hanna weinte bitterlich. Sie hatte eine von Jims Arbeiten gefunden, aber von ihm selbst gab es keine Spur. Alles, was sie fühlte, war Leere und eine dunkle, unbestimmbare Sehnsucht.
»Alles in Ordnung mit dir?«, hörte sie Gregs raue Stimme hinter sich.
Hastig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ja«, sagte sie, »es ist nur …«
Greg trat neben sie und ließ beide Handflächen langsam über das Relief des Stammes gleiten. »Jim war ein großartiger Künstler. Er verstand es, den Figuren Ausdruck zu verleihen wie kein anderer. Wäre er noch hier, hätte er den Auftrag für den Pfahl bekommen.«
Hanna holte ein Taschentuch aus ihrem Rucksack. »Hast du ihn um sein Können beneidet, Greg?«, fragte sie, als sie sich wieder gefasst hatte.
Der Indianer schüttelte den Kopf. »Nein. Ich liebte ihn, so wie du. Liebe ist nicht Neid, Hanna.« Greg schwieg eine Weile, bevor er sagte: »Als Jim noch da war, konnte ich ihn bewundern und dabei der sein, der ich bin. Seit er weg ist, bin ich wütend auf ihn, weil mein Vater von mir erwartet, dass ich die Lücke fülle, die Jim hinterlassen hat.«
Greg löste sich vom Pfahl und lief zum Parkplatz. Hanna folgte ihm. Er stieg in den Pick-up und wartete darauf, dass auch sie einstieg.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie.
»Ich muss am Archawat Peak einen passenden Zedernstamm für den Pfahl aussuchen. Du kannst mitkommen, wenn du willst, ich kann dich aber auch vorher zum Strandhaus zurückbringen.«
Hanna brauchte einen Moment, um seine Auskunft zu verarbeiten. Sie hatte gehofft, dass sie gleich heute mit der Suche nach Jim beginnen würden. Sie wusste nicht, wie und wo, da hatte sie ganz auf Greg vertraut. Er war ein Makah, er kannte die Leute. Doch Greg Ahousat hatte nichts anderes im Sinn, als im Wald nach einem Zedernstamm zu suchen.
»Aber du hast gesagt, du würdest mir helfen!« Sie hörte die Enttäuschung in ihrer eigenen Stimme.
»Ich habe versprochen, dir zu helfen, Hanna, das stimmt. Aber ich habe nicht gesagt, dass ich deshalb mein ganzes Leben über
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