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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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den Haufen werfe. Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen, okay?«
    »Okay.« Resigniert stieg sie auf den Beifahrersitz.
    In Washburnes Supermarkt kauften sie ein paar Lebensmittel, die Greg in einer großen Kühlbox auf der Ladefläche seines Trucks verstaute. Als er an der Tankstelle vor dem Hafen auftankte, registrierte Hanna, wie teuer das Benzin in Neah Bay war. Der Preis der Abgeschiedenheit, dachte sie.
    Hinter dem Ort fuhr er ein paar Meilen auf der Arrowhead Road, bis er kurz vor dem Sitz des Stammesrates nach rechts auf einen Waldweg einbog. Die Sonne schien, der Himmel war von einem strahlenden Blau und die Gipfel der Zwillingsberge lagen ausnahmsweise mal nicht in Nebelwolken verborgen.
    Anfangs war der Weg noch gut befahrbar, aber schon nach einer Meile änderte sich das. Hanna klammerte sich am Armaturenbrett fest. Greg fuhr langsam und wich Schlaglöchern und Wurzeln geschickt aus, trotzdem wurde sie auf dem Beifahrersitz hin- und hergeschleudert wie eine Marionette. Nach einer zwanzigminütigen Schaukelei endete der Weg in einem üppig grünen Dickicht. »Endstation«, verkündete Greg. »Ab hier müssen wir laufen.«
    Hanna hatte nichts dagegen, sich ein bisschen zu bewegen, aber sie fragte sich, welche Richtung Greg wohl einschlagen würde. Der Wald schien undurchdringlich. Hier wuchsen riesige Rotzedern, Sitkatannen, Douglasfichten und einzelne Hemlocktannen. Ihre Wipfel schienen bis in den Himmel zu reichen. Die Stämme waren von gewaltigem Ausmaß. Umgestürzte Bäume waren liegen geblieben wie Knochen, die die Erde noch nicht aufgezehrt hatte, und neue Stämme gruben ihre Wurzeln in das verrottende Holz. Dichtes Unterholz, üppige Farne und verschiedene Laubsträucher hatten den Wald scheinbar unzugänglich gemacht. Vor ihnen prangte eine grüne Wand.
    Aber Greg bewegte sich ohne zu zögern vorwärts. Wie von Geisterhand tat sich ein Pfad auf, Laub und Farne wichen zurück und sie kamen problemlos voran. Junkos – winzige Vögel mit schwarz-grau-weißem Gefieder – hüpften durch das Geäst der Sträucher. Ein graubraunes Eichhörnchen bewarf sie von oben mit kleinen Zapfen. Spinnenweben berührten Hannas Gesicht – weich wie Seide.
    Hanna blieb stehen, um einen Moment innezuhalten. Mit einem Mal konnte sie wieder frei atmen. Etwas, das sich im Museum zentnerschwer auf ihre Brust gelegt hatte, fiel hier draußen von ihr ab und ihre Stimmung besserte sich zusehends.
    »Wir müssen noch ein Stück ins Innere des Waldes«, erklärte ihr Greg. »Die Bäume stehen dort dichter und deshalb wachsen kaum kleine Äste am Stamm. Ich brauche für meinen Pfahl einen Stamm mit wenigen Astlöchern.«
    »Und du darfst hier einfach so einen Baum fällen?«, fragte sie.
    »Nicht einfach so«, erwiderte Greg lächelnd. »Wenn ich einen gefunden habe, dann muss ich mir vom Stammesrat die Erlaubnis holen, dass ich ihn fällen darf. Niemand kann sich einfach so bedienen. Aus diesem Wald hier darf nur Holz geholt werden, das später für traditionelle Bauten, Kanus oder Schnitzereien verwendet wird.«
    Zielstrebig lief er weiter.
    Hanna entdeckte, dass einige alte Bäume Löcher im Stamm hatten, die nicht von Insekten oder Vögeln stammen konnten. Sie waren von zu gleichmäßiger Größe und befanden sich alle ungefähr in Augenhöhe. Sie fragte Greg, woher sie stammten.
    Er trat an eine mächtige Zeder heran und berührte das verwachsene Loch. »Unsere Vorfahren haben sie gebohrt. Wenn sie sich einen Stamm ausgewählt hatten, aus dem sie ein Kanu bauen wollten, dann haben sie den Stamm zuvor angebohrt. Auf diese Weise konnten sie feststellen, ob er im Inneren nicht morsch war.«
    »So alt sind diese Löcher?« Hanna warf Greg einen beeindruckten Blick zu.
    Er lächelte. »Ja, mächtig alte Löcher.«
    Sie liefen weiter. Greg schien jeden Baum hier auf dem Berg persönlich zu kennen. Er schlich um die gerade gewachsenen Zedern herum, betastete die Längsrillen der Rinde und prüfte die Tauglichkeit des Baumes in Höhe und Umfang. Hanna beobachtete ihn schweigend dabei und eine Welle von Zuneigung stieg in ihr auf, die alles umfasste, was zu diesem abgeschiedenen Ort gehörte: das Meer, mit seinem Wechsel der Gezeiten und den Stürmen, die manchmal damit einhergingen. Die Wälder, mit ihren uralten Bäumen und den Geheimnissen, von denen sie zu erzählen wussten. Die Menschen, die hier seit Jahrhunderten lebten, mit ihren Traditionen und ihren Geistern.
    Greg hatte sie mit hierhergenommen und Hanna wertete das

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