Rain Song
meine Freunde könnten recht haben.«
»Recht womit?«, fragte er.
»Dass Jim verrückt war.«
Er sah sie eindringlich an. »Ich verstehe es nicht.«
»Was verstehst du nicht?«
»Wie konntest du ihn lieben, wenn du nichts von ihm wusstest? Umfasst Liebe nicht den ganzen Menschen?«
»Oh«, sagte Hanna, »ich habe den ganzen Menschen geliebt. Ich weiß nicht, ob du das nachvollziehen kannst, aber ich wollte Jim. Er war verletzt worden und ich wollte ihn heilen. Und sein Schweigen war der Preis dafür, dass ich ihn bekam.«
Greg sah sie an und sie konnte seinen Blick nicht deuten. War das Mitleid oder eher ein Vorwurf in seinen Augen?
»Ich muss nach Vancouver Island, Greg«, verkündete sie entschlossen. »Vielleicht finde ich dort eine Spur von ihm. Auch wenn er keine Verwandten mehr hat, er muss ja irgendwo aufgewachsen sein und jemand wird sich an ihn erinnern.«
Er stand auf. »Ich habe versprochen, dir zu helfen, Hanna. Warum bist du so ungeduldig?«
»Ich habe nur noch zwei Wochen und drei Tage, dann geht mein Flieger zurück nach Deutschland. Auch ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen.«
Gregs Augen umfingen sie mit einer warmen, rätselhaften Dunkelheit, die wie ein Sog wirkte. In seiner Gegenwart fühlte sie sich zunehmend verunsichert und sie konnte mit diesem Gefühl schlecht umgehen.
Sie folgte ihm nach draußen auf die kleine Veranda. »Wie weit ist es nach Vancouver Island?«
»Die Fähren gehen von Port Angeles aus. Die Überfahrt dauert nicht lange, etwa anderthalb Stunden. Aber wo willst du anfangen zu suchen? Es gibt viele Nuu-cha-nulth-Dörfer da drüben.«
»Irgendwas wird mir schon einfallen«, erwiderte sie mit mehr Zuversicht, als sie wirklich fühlte. »Ich habe ein Foto von Jim und ich nehme an, Kachook ist kein gewöhnlicher Name.«
»Vielleicht nicht«, räumte Greg ein. »Aber die Nuu-cha-nulth sind verschlossene Menschen und du bist eine Weiße. Möglicherweise werden sie dir keine Auskunft geben.«
Ihre eben noch empfundene Zuversicht schwand.
Greg schwieg einen Moment, dann drehte er sich zu ihr um. »Hanna, hast du dich schon einmal gefragt, ob Jim vielleicht gar nicht gefunden werden will?«
Hanna senkte den Blick. Ja, das hatte sie. Viele Male sogar.
»Glaubst du das?«, fragte sie leise zurück.
Er schüttelte den Kopf und seine Stirn legte sich in Falten. »Bis gestern nicht«, sagte er.
»Und wie geht es jetzt weiter?«
»Wenn du willst, begleite ich dich nach Vancouver Island«, bot er ihr an. »Aber ich sage, wann es so weit sein wird.«
Er ging.
»Wann sehe ich dich wieder Greg?«, rief sie ihm nach.
»Morgen«, sagte er. »Ich komme zu dir.«
7. Kapitel
Grace Allabush zog einen Zweig mit reifen Salmonbeeren zu ihrem Mund. Der herbfruchtige Geschmack explodierte auf ihrer Zunge.
Aus verengten Augenwinkeln heraus beobachtete sie Joey, wie er mit den Händen Samen von hohen Grashalmen streifte, während er nach geeigneten Holzstücken für seine kleinen Schnitzereien suchte. Sie besaß schon drei Exemplare seiner Kunst, sichtbare Zeichen seiner Zuneigung. Einen Wal, eine Robbe und einen Bären. Stücke, die glatt und griffig in der Hand lagen. Was das Schnitzen anging, war Joey ein Naturtalent.
Würden seine Hände ihren Körper genauso formen wie das Holz? Sie wollte es endlich wissen.
Grace pflückte ein paar Beeren, stellte sich Joey in den Weg und streckte ihm die Hand mit den Beeren entgegen. Er ließ den Beutel mit Holzstücken zu Boden gleiten, griff mit seiner Rechten nach ihrem Handgelenk und holte mit den Lippen und der Zunge die Beeren in seinen Mund. Grace begann zu kichern, denn Joeys Zunge kitzelte in ihrer Handfläche.
Er jedoch blieb erschreckend ernst. Als ihre Blicke sich trafen, entdeckte Grace in seinen Augen ihre eigenen Wünsche. Röte trieb über ihre Wangen. Joey ließ ihre Hand nicht los, er küsste die Innenfläche, legte sie dann an sein Gesicht. Dabei zog er Grace noch ein Stück näher an sich heran. Das Herz schlug wild in ihrer Brust. Es war warm auf der Waldlichtung und Joey hatte sein Hemd ausgezogen. Sein brauner Körper war glatt und mager. Er würde sich bestimmt gut anfühlen, genauso gut wie seine Schnitzereien.
Als Joey seinen Kopf senkte, streckte Grace ihm ihre Lippen entgegen. Er sah sie kurz an, dann griff er nach ihrem Kinn und küsste sie wieder. Sie fühlte die weiche Innenseite seiner Lippen und fand es unbeschreiblich schön.
Sie legte ihre Wange an seine Brust und in ihrem Magen begann es zu
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