Rain Song
als positives Zeichen. Er würde ihr helfen, Jim zu finden, er hatte es ihr versprochen. Sie musste nur lernen, etwas geduldiger zu sein und ihm zu vertrauen.
Er war vor dem Stamm einer Zeder stehen geblieben, legte seine Hände auf die Rinde und blickte nach oben. Dann ging er mit seinem Gesicht so nahe an den Stamm heran, dass seine Lippen die Rinde berührten. Als ob er dem Baum etwas zuflüstern würde und ihm ein Versprechen gab. Vielleicht bat er den Baum ja um seine Einwilligung, ihn fällen zu dürfen, dachte Hanna.
»Der ist es«, sagte er schließlich.
Hanna betrachtete den Stamm und fragte sich, worin er sich von den anderen unterschied. »Woher weißt du, dass er es ist?«
»Ich habe ihn gerufen und er hat mir geantwortet.« Greg legte sein Ohr an den Stamm. »Hörst du sein Lachen?«
»Sein Lachen?«
»Ja. Jeder Baum ist wie ein menschliches Lebewesen und hat eine eigene Persönlichkeit. Dieser Baum lacht.« Er strich fast zärtlich über die Rinde. »Diese Zeder hier ist sehr alt, vielleicht zweihundert Jahre. Sie ist würdig, den Menschen ihre Geschichte zu erzählen.«
»Verstehe«, sagte Hanna. »Deshalb hat Jim damals so vehement darauf bestanden, dass er für seinen Pfahl eine Rotzeder zur Verfügung gestellt bekam. Sie musste extra aus Kanada eingeflogen werden, mein Chef hat sich wochenlang über die zusätzlichen Kosten beschwert.«
»Jim hätte nie einen Pfahl aus anderem Holz geschnitzt«, sagte Greg. Er holte ein rotes Plastikband aus der Hosentasche, wickelte es um den Stamm der Zeder und verknotete es. »Zedernholz eignet sich am besten für einen Wappenpfahl. Es verzieht sich nicht und außerdem hat der Stamm sein eigenes Holzschutzmittel schon in sich. Toxische Substanzen in den Zellen verhindern Insektenbefall und bewahren das Holz vor einer schnellen Verrottung.«
Hanna fragte Greg, wie er den Stamm in seine Werkstatt bringen würde, in der Hoffnung, etwas über seine weiteren Pläne herauszufinden.
»Morgen früh rufe ich in der Forstverwaltung an und beschreibe denen, wo der Stamm steht. Mit etwas Glück hat gleich am Vormittag jemand Zeit, den Stamm zu fällen, dann liegt er morgen schon in meiner Werkstatt. Ich hoffe, die von der Forstverwaltung haben keine Einwände gegen diesen Stamm, ich habe ihm nämlich ein Versprechen gegeben.«
Hanna schluckte. Greg hatte also nicht nur ihr, sondern auch dem lachenden Baum ein Versprechen gegeben. Als sie Greg Ahousat ansah, wurde ihr klar, dass er es ernst meinte. Das verunsicherte sie. Diese Welt blieb ihr verschlossen, denn Verständnis allein reichte nicht aus, um ein Leben mit Gegenwärtigkeiten zu führen, die man nicht sehen konnte.
Eine halbe Stunde später waren sie auf dem Weg zum Strandhaus. Greg trug die Kühlbox mit den Lebensmitteln ins Haus und Hanna räumte den Kühlschrank ein. Sie war hungrig und ihr Magen begann zu rumoren.
Es war Nachmittag geworden und sie wusste, Greg würde sie gleich allein lassen. Sie wollte ihn nicht schon wieder bedrängen, aber sie wollte auch nicht untätig herumsitzen.
»Was kann ich tun, Greg, um Jim zu finden? Wen kann ich fragen in Neah Bay, wer kannte ihn gut?«
Greg seufzte. Ihre Ungeduld schien ihm unverständlich zu sein. »Außer meinem Vater und mir … vielleicht noch die alte Gertrude Allabush, aber sonst …«
»Hat Jim nie versucht, seine Verwandten in Kanada zu besuchen?«, fragte sie.
»Er hatte keine Familie außer seinem Vater, das hat er zumindest immer behauptet. Aber später, als er erwachsen war und bereits ein anerkannter Holzschnitzer, da verschwand er manchmal tagelang. Keiner wusste, wohin. Er tauchte immer wieder auf, brachte Geschenke mit für meinen Vater und mich und neue Aufträge.«
Greg setzte sich auf einen der Holzstühle. »Damals habe ich keine Fragen gestellt«, sagte er, »weil ich wusste, dass Jim das nicht wollte. Aber ich bin ziemlich sicher, dass er manchmal drüben auf Vancouver Island war und seine Leute besuchte.« Er hob den Kopf und sah Hanna an. »Hat er dir wirklich nie etwas von seiner Mutter oder seinem richtigen Vater erzählt?«
Hanna presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Es war, als hätte er nie Mutter oder Vater gehabt. Den Namen seiner Mutter erfuhr ich nur durch Zufall. Er redete im Traum und ich hab ihn am Morgen danach ausgefragt. Aber er hasste meine Fragen. Manchmal redete er tagelang überhaupt nicht mehr. Dann war es, als wäre ich mit einem Gespenst zusammen. Es gab Zeiten, da fürchtete ich,
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