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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Strandhaus, sie hatte keine Lust, schon wieder nass zu werden.
    Aber dann dauerte es doch noch eine ganze Weile, bis die ersten Tropfen fielen. Hanna saß im Sessel und las in einem zerfledderten Reiseführer, dass die gesamte, über fünfzig Meilen lange Küstenregion von Shi Shi Beach bis zum Reservat der Quinault zum Olympic-Nationalpark gehörte und Lake Ozette der drittgrößte See im Bundesstatt Washington war. Anfang der Achtziger war der Olympic-Nationalpark zum Weltkulturerbe erklärt worden. Auf der Olympic-Halbinsel gab es acht Pflanzenarten und achtzehn Tierarten, die nirgendwo sonst auf der Welt zu finden waren.
    Hanna fielen die Augen zu und das Buch rutschte ihr aus den Händen. Die Zeitverschiebung machte ihr noch immer zu schaffen. Sie ging früh schlafen, hatte jedoch eine unruhige Nacht. Im Rhythmus des Mondes stieg die Flut, der Pazifik brandete gegen das Ufer und die anhaltenden Gewitterböen peitschten Regentropfen gegen das kleine Fenster der Schlafkammer. Das kleine Holzhaus knarzte und ächzte wie ein alter Mann.
    Mit trockener Kehle wälzte Hanna sich auf ihrem Lager. Das Tosen des Meeres, seine Nachtwogen, die gegen das Ufer schlugen, untermalten den Albtraum, in dem sie sich wiederfand: Totempfähle, die wilde Tänze aufführten. Masken, die Wal, Bär und Wolf zeigten, deren Augen in wildem Feuer glühten. Jim mitten unter ihnen, tanzend und doch hilflos. Sein Mund formte ein Wort. Anaqoo. Starr vor Entsetzten streckte er seine Hände nach Hanna aus, konnte sie aber nicht erreichen.
    Schweißgebadet fuhr Hanna aus dem Schlaf und setzte sich auf. Ihr Herz raste. Grelle Blitze erhellten das Zimmer mit Lichtsplittern, Donner grollte und ließ die dünnen Wände des Strandhauses erzittern. Regen prasselte auf das Dach und drosch gegen die kleine Fensterscheibe.
    Hanna schaltete die Nachttischlampe mit dem vergilbten Schirm an. Ihr mattes Licht drängte die wilden Gestalten aus ihrem Traum zurück und nach einer Weile beruhigte sich auch ihr Herz.
    Wie verrückt das alles war.
    Jim, der seit Jahren durch ihre Schlaflosigkeit geisterte, seine flehenden Augen, die ihre Träume begleiteten. Das waren die Schatten ihrer einstigen Hoffnungen. Man bekommt etwas, um es wieder zu verlieren. Das Fieber des Verlustes drohte, einen innerlich zu verbrennen. Aber das Leben musste weitergehen.
    Hanna stand auf, ging auf die Toilette und trank ein paar Schlucke Wasser. Sie erschrak vor ihrem Spiegelbild im halbblinden Spiegel über dem Waschbecken. Ihr Gesicht war bleich, die Augen gerötet, die Haare standen wie Schlangen von ihrem Kopf. Sie sah aus wie ein Geist.
    Sie ging zurück in die Schlafkammer, glättete das Laken und legte sich wieder ins Bett. Das Donnergrollen hatte endlich ein wenig nachgelassen, der Regen wurde schwächer. Im Dunkeln lauschte sie der Brandung, die so laut war, dass Hanna das Gefühl hatte, die Gischt würde die Pfeiler der Hütte umspülen. Sie dachte an ihren Sturz ins Meer, den Albtraum des Fallens. Die Furcht, so finster und kalt. Das Gefühl der eigenen Auflösung. Dieses Stück Zeit unter Wasser, in der sie dem Tod so nahe gewesen war, würde Hanna von nun an ihr eigen nennen. Es gehörte nur ihr, niemand anderem – ein Geschenk des Ozeans. Durch ein Stück Raum und Zeit war sie mit dieser gewaltigen Macht verbunden.
    Nachdem Hanna noch eine Weile in die Dunkelheit gestarrt hatte, fühlte sie, wie ihre Lider schwer wurden und sie wieder in den Schlaf sank.
    In jenem Augenblick, als das Gewitter direkt über dem Ort tobte, schreckte auch Polizeichef Oren Hunter aus dem Schlaf. Er hatte geträumt. In seinem Traum war er am Kap gewesen, wo erneut jemand in die Tiefe gerissen worden war. Eine Gestalt lag mit verrenkten Gliedern auf den muschelbewachsenen Steinen am Fuße der Klippen.
    Hunter japste so laut nach Luft, dass seine Frau Hildred aufwachte, das Licht anknipste und ihn verwundert ansah. Er saß aufrecht im Bett und die Haare standen ihm zu Berge.
    »Ich geh mir nur was zu trinken holen«, sagte Oren, stellte die Füße auf den Boden und tappte benommen in die Küche. Er holte sich die Zitronenlimonade aus dem Kühlschrank und trank gleich aus dem Krug. Vielleicht, so dachte er, sollte er beim Potlatch am nächsten Freitag mal wieder tanzen. Nur so, um seinen Schutzgeist gnädig zu stimmen. Nur, weil er nicht ausschließen konnte, dass die Gestalt, die zerschmettert auf den Klippen gelegen hatte, nicht er selbst gewesen war.
    Und weil das Kribbeln in seinem Zeh kein

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