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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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entstand, wenn er seine mächtigen Schwingen bewegte, die Blitze kamen aus seinen Augen, die große Kristalle waren.
    Der Donnervogel war ein Geisterwesen, das Wünsche wahr werden ließ.
    Greg versuchte, konzentriert zu arbeiten, aber seine Gedanken wanderten immer wieder zu den merkwürdigen Unfällen, von denen Bill ihm erzählt hatte.
    »Irgendetwas bedrückt dich doch«, sagte Hanna und riss ihn aus seinen Gedanken. »Hat es etwas mit mir zu tun? Mit Jim?«
    »Mir gefällt nicht, was sich hier abspielt«, sagte er. »Ich mache mir wirklich Sorgen um deine Sicherheit.«
    Sie schlug das Buch zu und lächelte. »Ich fühle mich sicher, wenn du in meiner Nähe bist.«
    »Ich kann aber nicht immer in deiner Nähe sein«, erwiderte er besorgt.
    Hanna seufzte, als ob sie das bedauern würde. »Hast du einen Verdacht, Greg? Könnte dein Vater etwas damit zu tun haben?«
    »Mein Vater? Nein.« Greg schüttelte den Kopf. »Auf solche Mittel würde er nie zurückgreifen, ich kenne ihn.« Sein Tonfall klang überzeugt, doch in Wahrheit war er sich da nicht mehr so sicher.
    »Du hast angedeutet, dass er eine unglückliche Kindheit hatte.«
    Greg nickte und begann wieder zu arbeiten. »Mein Vater verlor seine Eltern, als er acht Jahre alt war«, sagte er. »Eine Seelöwin tötete meinen Großvater, als sie ihr Junges verteidigte. Daraufhin nahm sich meine Großmutter das Leben. Sie sprang von den Klippen ins Meer.«
    Greg hielt das Holzstück auf Augenhöhe und überprüfte, ob es gerade war. Dann nahm er eines der Messer zur Hand und schnitzte die erste Vertiefung. »Leute vom Jugendamt holten meinen Vater ab. Er kam in ein Heim, irgendwo in Seattle und von dort aus zu verschiedenen weißen Pflegefamilien. Insgesamt waren es neun. Er riss immer wieder aus, wurde aufgelesen und zurückgebracht.« Er sah von seiner Schnitzerei hoch. »Als er endlich mündig war und tun und lassen konnte, was er wollte, war er ein unglücklicher, hasserfüllter junger Mann. Er ersäufte seinen Zorn auf die Weißen im Alkohol und bei einer Prügelei mit zwei jungen Burschen schlug er den einen krankenhausreif. Dad kam ins Gefängnis, dort hatte er dann genug Zeit, um über sich und sein Leben nachzudenken. Er wusste, dass er auf dem falschen Weg war, aber wohin der richtige Weg führte, davon hatte er keine Ahnung. Ein paar Tage vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte er einen Traum, den er mir vor vielen Jahren einmal erzählt hat.«
    Nachdenklich ließ er den Pfahl auf seinen Schoß sinken, wandte den Kopf und sah aus dem Fenster. »Oder besser gesagt: Er hat ihn Jim erzählt und ich war zufällig dabei. In diesem Traum saß mein Vater auf einem beschnitzen Pfahl, der auf dem Meer trieb. Er hatte große Angst, von den Wellen verschluckt und in die Tiefe gezogen zu werden. Aber das passierte nicht. Der Pfahl war wie ein Kanu, das ihn sicher ans Ufer trug.«
    »Also hat er angefangen zu schnitzen.«
    »Ja«, Greg nickte. »Nach seiner Entlassung kehrte mein Vater nach Neah Bay zurück. Hier war er geboren, hier hatten seine Eltern gelebt und nur hier genoss er die Rechte und Privilegien seiner Familie. Zu dieser Zeit gab es niemanden im Ort, der die Kunst des Pfahlschnitzens meisterlich beherrschte. Aber in der ehemaligen Werkstatt meines Großvaters lagerten noch seine selbst gemachten Werkzeuge. Mein Vater packte alles zusammen und ging auf die Suche nach einem Meisterschnitzer, der ihn in die Lehre nehmen würde.«
    »Das klingt nach einem starken Willen«, bemerkte Hanna.
    »Oh ja, den hatte mein Vater. Er war ein Mann ohne Können, aber er hatte eine Vision und er hat sie umgesetzt.«
    »Er weiß, wie es ist, heimatlos zu sein«, sagte Hanna und stützte sich mit beiden Armen auf die Tischplatte. »Und er wollte nicht, dass Jim dasselbe widerfährt. Deshalb hasst er mich so.«
    »Vielleicht hast du recht«, sagte Greg. »Auf irgendeine Weise trägt jeder seine Vergangenheit mit sich herum. Aber wir sollten sie nicht unser Leben bestimmen lassen oder die Verletzungen, die wir davongetragen haben, an andere weitergeben.«
    Er schwieg einen Moment und dachte an früher. Schon als Kind hatte er mitbekommen, wie sehr seine Mutter unter der Lieblosigkeit seines Vaters gelitten hatte, und auch später war der mürrische Mann für ihn ein Fremder geblieben. Doch in letzter Zeit verstand er ihn überhaupt nicht mehr. Matthew Ahousat war ein fanatischer Traditionalist geworden, ein harter Mann, ohne einen Funken Toleranz gegenüber

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