Rain Song
anderen.
»Manchmal glaube ich, Vater hat überhaupt nur geheiratet, um einen Sohn zu zeugen, der sein Können und seine Privilegien erben würde. Meine Mutter litt unter seinem herrischen Wesen und ich vermute, es war der Verlust ihrer Fröhlichkeit, der sie krank werden ließ und letztendlich tötete.«
Greg begann wieder zu schnitzen. Duftende Zedernspäne flogen auf den Boden und die verschiedenen Tierfiguren nahmen langsam Gestalt an.
»Dein Vater hat nie wieder geheiratet?«
Greg schüttelte den Kopf.
»Dann warst du viel mit ihm allein?«
»Ja, aber nur ein Jahr lang. Es war allerdings ein schlimmes Jahr für mich.«
»Und dann kam Jim zu euch«, bohrte Hanna weiter.
»Ja. Jim kam zu uns – der Junge aus dem Meer, wie alle ihn nannten. Mein Vater behandelte ihn, als wäre er sein eigener Sohn. Und ich war froh, mit dem mürrischen Mann nicht mehr allein sein zu müssen.« Greg ließ das Messer sinken, denn seine Hand begann zu zittern, als er an Tage mit Jim zurückdachte, die voller Lachen gewesen waren.
Das alles war so schrecklich lange her.
»Jim war der einzige Mensch, mit dem ich darüber reden konnte, wie sehr mir meine Mutter fehlte. Ich weiß, dass er versuchte, meinen Verlust auszugleichen, jedenfalls, als ich noch jünger war. Er hörte mir zu. Ich konnte zu ihm kommen, wann immer ich mich einsam fühlte oder Angst hatte.«
»Er fehlt dir genauso wie mir, nicht wahr?«, fragte Hanna.
Greg spürte plötzlich eine Taubheit in seinem Herzen, die ihm Angst machte. Er nickte nur und redete weiter. »Vater lehrte uns beide das Schnitzen, aber Jim war weitaus ehrgeiziger als ich. In unserer Kultur muss ein junger Mann durch einen Traum erfahren, welche Arbeit ihm zugedacht ist und wie er sie meistern kann. Jim hatte mit vierzehn die Vision, dass aus ihm ein guter Holzschnitzer werden würde.«
»Und was ist mit dir, Greg? Was hast du geträumt?«
»Ich hatte nie einen Traum vom Schnitzen oder von einem Pfahl. Ich bin ein Holzschnitzer ohne Vision, Hanna«, sagte Greg und schüttelte den Kopf. »Das ist ungefähr dasselbe wie ein Fischer ohne Boot.«
»Aber warum tust du es dann?«
»Weil ich es kann. Und weil ich es muss. Mein Vater ist ein alter Mann, Jim ist verschwunden. Wenn ich mich weigere, wird es bald keinen Holzschnitzer mehr in Neah Bay geben.«
»Ich verstehe«, sagte sie. »Deshalb warst du wütend auf mich – und auf Jim.«
»Ja«, gab er zu. »Aber ich liebe ihn mehr, als dass ich wütend auf ihn bin. Und das wird immer so sein.«
Hanna betrachtete Gregs Hände, die auf der Innenseite heller als auf dem Handrücken waren. Sie versuchte, sich an Jims Hände zu erinnern, an seine Gesten, als könne so das Unsichtbare sichtbar werden. Aber es gelang ihr nicht. Jims Bild blieb immer dasselbe und mehr und mehr nahm es Schattenfarben an. Greg dagegen saß hier, bei ihr. Er war aus Fleisch und Blut und er redete mit ihr.
Hanna kam gegen ihre Gefühle für ihn nicht an. Sie spürte das Zurückströmen einer Hoffnung und wollte sich nicht mehr dagegen wehren.
»Wo kamst du eigentlich so plötzlich her, als ich am Cape Flattery um Hilfe schrie?«, fragte sie leise. »Ich dachte, so früh am Morgen wäre ich ganz allein.«
»Das bist du hier nie«, erwiderte Greg lächelnd und legte beide Arme auf die Tischplatte. »Unsere Geister sind überall.«
Da erinnerte sich Hanna wieder an diese konturenlose Gegenwart, die sie an diesem Morgen am Kap gespürt hatte. »Aber du bist kein Geist, oder?«
Jetzt lachte Greg. »Ich war mit dem Boot in der Grotte. Deshalb hast du mich nicht gesehen.«
»Das mag stimmen«, sagte Hanna nachdenklich. »Aber da war noch jemand am Kap. Ich dachte, meine Müdigkeit hätte mir einen Streich gespielt, aber inzwischen bin ich mir sicher, dass da noch jemand war.
»Und dieser Jemand hat dir nicht geholfen?«
Hanna schüttelte betreten den Kopf. Sie wusste selbst, wie merkwürdig sich das anhörte. »Greg, kennst du eine Flora?«
Greg legte sein Werkzeug aus der Hand. »Flora Echahis. Wer hat dir von ihr erzählt?«
»Grace. Sie sagt, sie ist verrückt und wohnt in einem Baum. Sie sagt, Flora ist Tsonoqa, die Wilde Frau, und ich soll mich vor ihr in Acht nehmen.«
Greg schien ehrlich verwundert zu sein über Grace Allabushs Behauptung, Annies Tante wäre ein Geist. Aber Hanna sah auch Besorgnis in seinen Augen.
»Was ist denn los?«, fragte sie. »Hast du sie gesehen?«
»Nein, habe ich nicht. Aber in letzter Zeit will immer mal wieder jemand
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