Rain Song
Die Männer sangen. Greg flüsterte Hanna zu, dass diese Lieder so alt waren, dass selbst diejenigen, die der Makah-Sprache mächtig waren, nicht alle Worte verstanden.
Sechs Makah begannen, nach den dumpfen Schlägen der Trommeln und dem Geklapper der Rasseln zu tanzen. Im rötlichen Schein des Feuers drehten sie ihre maskierten Köpfe. Zwei der Masken hatten bewegliche Teile, sodass sie dadurch noch lebendiger und furchterregender wirkten.
An den unterschiedlichen Tanzgewändern baumelten Knochenstücke, Hornteile oder Muscheln, die bei jeder Bewegung der Tänzer aneinanderschlugen und den seltsam drängenden Rhythmus noch untermalten.
Drei Männer befanden sich unter den Tänzern, die ein Gespräch mit den Geistern suchten. Der große Oren Hunter tanzte schwerfällig unter dem Fell eines Bären, auf dem Kopf die geschnitzte Maske eines Bären: große schwarze Augen und eine bewegliche Schnauze. Hunter tanzte und wünschte sich, sein Zeh möge aufhören zu kribbeln. Er hoffte, dass die Stimmen in seinem Kopf verstummten und der Schöpfer ihm den richtigen Weg wies. Er war ein Makah, aber er verkörperte auch das Gesetz. Irgendwie mussten sich diese beiden Dinge doch unter einen Hut bringen lassen.
Ein weiterer Tänzer war der junge Sheriff. Seine Maske stellte einen Sperber dar. Ein kurzer, nach unten gebogener Schnabel, rote Augen und auf dem Kopf weiße Federn. Bill Lighthouse tanzte für seinen Freund Dan, der im Hospital von Port Angeles im Koma dahindämmerte. Er wusste, dass Hadlocks Seele von Makah-Geistern gefangen gehalten wurde. Und er fühlte sich schuldig. Er hätte Dan solche Dinge nicht erzählen dürfen. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, welchen Einfluss die übernatürlichen Wesen auf die Menschen hatten.
Auch Matthew Ahousat tanzte, Greg hatte seinen Vater sofort an seinem alten, kostbaren Tanzumhang aus Tierhaut erkannt, der kunstvoll mit schwarzen stilisierten Tiermotiven bemalt war. Auf dem Kopf trug er eine Wolfsmaske mit Abalonezähnen, an der er vermutlich die letzten Tage gearbeitet hatte. Das lange schwarze Pferdehaar floss in langen Strähnen über seinen breiten Rücken.
Matthew Ahousat betete zornig: Sein Sohn möge zur Vernunft kommen und Annie Waata heiraten. Die weiße Frau musste aus Gregs Leben verschwinden – ihre Anwesenheit würde ihnen allen Unglück bringen.
Seine Beine stapften mit einer Kraft auf den feuchten Sandboden, die sein Alter Lügen strafte. Er tanzte wie ein Besessener, denn es gab mehr als eine Art, den Feind zu bekämpfen. Tanzen bedeutete Macht. Wenn er wollte, konnte er diese Macht in etwas Unheimliches verwandeln, in etwas Düsteres, Böses. Die Töne, die Matthew ausstieß, klangen wie eine Kreuzung aus Ächzen und Weinen.
In diesem Taumel aus Tanz und Gesang geriet Matthew Ahousat aus der Zeit. Erinnerungen, die sonst im Gefängnis der Verbitterung eingeschlossen waren, brachen jetzt an die Oberfläche seines Bewusstseins.
Einmal, vor sehr langer Zeit, war er ein ganz normaler Junge gewesen. Sanft und fröhlich und voller Ideen. Er hatte eine Mutter und einen Vater gehabt, die ihn liebten und ihm Geborgenheit schenkten. Aber dann, nach dem Tod seiner Eltern, fern von allem, was vertraut war, hatte man ihm das Leben zur Hölle gemacht. Und er hatte gelernt, dem Teufel ein ebenbürtiger Gegner zu werden.
Ahousat verachtete alle Weißen, auch jene, die sich ihm gegenüber loyal verhielten und ihn bewunderten. Denn niemals konnte er vergessen, was ihm in der Welt der Weißen widerfahren war: die Erniedrigungen, die Verachtung, die Gleichgültigkeit.
Alles, was für ihn jetzt noch Bedeutung hatte, war sein Status als Schnitzkünstler von Neah Bay und seine Privilegien, die er an seinen Sohn weitergeben würde.
Dazu gehörte das Recht, Masken und Wappenpfähle zu schnitzen, sein Haus am Strand zu erbauen, vor der Küste zu fischen und während eines Tanzes diese Wolfsmaske zu tragen. Dazu gehörten die Namen seiner Vorfahren, die er Generation für Generation aufsagen konnte. Und natürlich die Lieder, die voll von Geheimnissen und Botschaften waren. Geheimnisse, die nur er kannte.
Matthew Ahousat tanzte, bis der Schweiß ihm in Strömen über den Körper rann. Er fühlte sich stark. Und er sah eine Zukunft. Deshalb erhoffte er sich die Gnade der Geister auch noch für etwas anderes. Für eine Frau, schön und wissend, die ihm einen weiteren Sohn schenken sollte. Einen Sohn, den er nach seinem Bild formen konnte. Einen Jungen, der Holzschnitzer werden
Weitere Kostenlose Bücher