Rain Song
und die Lieder seines Vaters erben würde.
Der Klang der Trommeln wurde laut, der Rhythmus mächtig. Das Klappern der Rasseln war betäubend. Mit wilden Schreien schleuderten die Tänzer ihre Hoffnungen aus den Kehlen. Im wandelnden Schatten des flackernden Feuers tanzten die Roben aus Leder oder Zedernfaser ihren eigenen Tanz. Die bemalten Masken mit ihren langen Haaren und Federn verwandelten sich in lebendige Ungeheuer. Die Menge feuerte die Tänzer durch Klatschen und Gesang an.
Hanna stand neben Greg und versuchte, diese Darbietung der Vergangenheit in sich aufzunehmen. Die Zeiten von einst lebten im Herzen der Makah fort. Der Strand war bevölkert von Menschen, die seit Hunderten von Jahren ihr Gedächtnis mit den Füßen in den Sand zeichneten. Und trotz stetigem Wechsel von Ebbe und Flut hatte das Gedächtnis überlebt.
Nach den Tänzen wurden im Schein des Feuers in strenger Reihenfolge die Geschenke verteilt: Kunstwerke wie kleine Bastkörbe und bemalte Schnitzarbeiten. Decken und Kleidungsstücke. Aber auch Waren des täglichen Bedarfs, wie Plastikeimer, Geschirrtücher und Koffer. Und nicht zu vergessen: die vielen Dollarscheine.
Annie Waata hatte Greg und Hanna längst in der Menge ausgemacht und die beiden eine Weile beobachtet. Sie wusste, dass Greg Ahousat sie niemals heiraten würde. Auch dann nicht, wenn die Geister des Meeres die rothaarige Frau an seiner Seite persönlich auf den Grund ziehen würden – etwas, worum Annie sie seit Tagen inständig gebeten hatte.
Sie würde den jungen Holzschnitzer nicht bekommen. Genauso wenig, wie sie Jim Kachook bekommen hatte. Ein Muskel schmerzte in Annies Brust, angesichts des doppelten Verlustes ihrer Liebe. Denn sie liebte Greg Ahousat wirklich, beinahe so stark, wie sie Jim geliebt hatte.
Jim Kachook hatte ihren Körper besessen und ihre Seele. Wortlos hatte er Annie in Besitz genommen, als sie siebzehn Jahre alt gewesen war. Nie hatte irgendjemand aus Neah Bay etwas davon bemerkt. Annie hatte ihm viel gegeben und er hatte alles genommen. Sie hatte darauf gewartet, dass er sie heiraten würde. Stattdessen war er fortgegangen, um unter fremdem Himmel mit einer fremden Frau zu leben. Mit einer Babathlid. Und in Annies Brust war das Herz zu einem Eisklumpen erstarrt.
Doch dann war Greg Ahousat nach Neah Bay zurückgekehrt. Annie hatte sofort gefühlt, dass er der einzige Mann war, der das Eis in ihrem Inneren schmelzen konnte. Seitdem hatte sie versucht, sich seinem Herzen zu nähern. Sie war ihrem Ziel schon sehr nahe gewesen, als aus heiterem Himmel diese Frau wieder auftauchte, dieselbe, die ihr Jim weggenommen hatte.
Alles wiederholt sich. Das hatten schon die Alten gesagt.
Annie hasste Hanna so sehr, dass sie den Wunsch verspürte, sie zu töten. Aber der Versuch mit dem losen Brett war nur halbherzig gewesen. Jemanden zu hassen und ihm den Tod zu wünschen oder ihm das Leben mit eigener Hand zu nehmen, war nicht dasselbe. Letztendlich war Annie erleichtert, dass Hanna nichts geschehen war. Erst recht, seit sie auf etwas gestoßen war, von dem sie bisher keine Ahnung gehabt hatte.
Ein fast voller Mond stand am Nachthimmel und warf sein bleiches Licht auf den Strand. Das Stimmengewirr mischte sich mit dem hypnotischen Rhythmus der Wellen. Die Menschen, die sich hinter Hanna und neben ihr drängten, erschienen ihr auf einmal fremder als je zuvor. Sie fühlte sich verloren und wollte nur noch weg, zurück in die vertrauten Wände von Gertrude Allabushs Strandhütte. Sie klammerte sich an Gregs Arm.
»Hey, ist alles in Ordnung?«, fragte er verwundert.
»Können wir gehen? Ich …«
»Schon gut«, sagte er. »Es ist spät und das Fest sowieso bald zu Ende. Nicht mehr lange und die Flut überspült den Strand.«
Gemeinsam verließen sie das Potlatch und passierten ein paar Sträucher, die den Strand vom Parkplatz trennten. Plötzlich trat eine dunkle Gestalt hinter den Büschen hervor und stellte sich ihnen in den Weg. Hanna stolperte erschrocken einen Schritt zurück.
»Annie!«, sagte Greg überrascht.
»Keine Angst«, sagte Annie, »ich bin kein Geist.« Als die Indianerin ihre Hand nach Hanna ausstreckte, stellte sich Greg schützend vor sie. Annie lächelte traurig. »Ich will ihr nichts tun, Greg. Ich möchte ihr nur etwas geben.«
Zögernd trat Greg zur Seite und Annie reichte Hanna ein schweres Taschenmesser mit einem schönen Perlmuttgriff. Hanna streckte die Hand nach dem Messer aus. Im kalten Licht des Mondes erkannte sie es
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