Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
sich eindeutig festhalten, dass es viel weiter flussaufwärts als Trehaug und Cassarick gelegen haben muss. Wir haben Beschreibungen des saftigen Weidelands, das die Stadt umgab und sowohl dem Vieh als auch dem Wild reichlich Nahrung bot. Die Drachen haben von beidem nach Lust und Laune gefressen, und man erachtete es als ihr gutes Recht. Doch die sanften Weidehügel wollen nicht zu dem Dschungel der Regenwildnis passen, wie wir sie kennen. Auch passen die Beschreibungen des Flusses nicht. Laut den Schriften lag Kelsingra an einem tiefen Fluss, dessen Strom zu Zeiten von Hochwasser schnell und tückisch wurde. Die Illustrationen in den Schriften und auch dieser Teppich zeigen deutlich gekielte Schiffe, die sich der Stadt nähern oder im Hafen festmachen. Es lagen bereits Handelsschiffe beträchtlicher Größe vor Anker. Wieder passen diese Bilder nicht zum Regenwildfluss, wie wir ihn heute kennen. Wir müssen also zum einen annehmen, dass entweder der Fluss sich gewandelt hat, was schon durch die verschütteten Städte bewiesen ist, die gerade ausgegraben werden. Oder wir müssen uns fragen, ob es einen zweiten Fluss gab, einen Nebenfluss oder einen, der mit der Zeit mit dem Regenwildfluss verschmolz.«
Atem und Worte gingen ihr im selben Moment aus. Sie wandte sich von dem Bildteppich ab und ihren Zuhörern zu. In Maltas Gesicht stand eine Mischung aus Triumph und Niederlage. Die stoppelhaarige Regenwildfrau am Tisch nickte eifrig. »Ausgezeichnet!«, rief sie, bevor jemand anders das Wort ergreifen konnte. »Wir stehen in Eurer Schuld, meine Dame. Der schwarze Drache nannte Kelsingra als das bestmögliche Ziel der Drachen. Uns gegenüber haben die Drachen angedeutet, dass es eine bedeutende Elderlingsstadt gewesen sei. Doch bis eben wussten wir nicht, ob sie überhaupt existierte. Ihr liefert uns mit dem Teppich nicht nur den fassbaren Beweis, sondern beglaubigt auch noch mit Eurer wissenschaftlichen Sachkenntnis, dass ein solcher Ort existierte und womöglich noch immer existiert. Eine bessere Nachricht könnten wir uns nicht wünschen, keiner von uns!«
»Ich schon«, stellte Malta nüchtern fest. »Ich würde mir eine Karte wünschen, auf der die Lage der Stadt im Verhältnis zu den beiden Elderlingsstädten, die wir bereits gefunden haben, exakt verzeichnet ist.« Sie wedelte ungeduldig mit der Hand, und die Kugeln spritzten wie aufgescheuchte Katzen davon. Malta ging zu einer Bankreihe und ließ sich langsam darauf niedersinken. Plötzlich wirkte sie wie ein normaler Mensch. Und sehr müde. »Wir haben sie so schmählich im Stich gelassen. Wir haben Tintaglia ein Versprechen gegeben, und am Anfang haben wir noch unser Bestes für sie gegeben. Allmählich haben wir es schleifen lassen, und die letzten zwei Jahre waren ein einziger Albtraum. So viele sind gestorben.«
»Ohne unsere Hilfe wären alle gestorben. Ohne unsere Hilfe hätten sich die meisten von ihnen noch nicht einmal eingesponnen, geschweige denn wären sie geschlüpft«, stellte Händlerin Polsk nüchtern klar.
»Wenn wir sie nicht auseinandergesägt hätten, um Schiffe aus ihnen zu bauen, wären während des Erdbebens vielleicht mehr geschlüpft«, erwiderte Malta scharf.
»Wäret Ihr überhaupt dort gewesen, wenn es keine Lebensschiffe gegeben hätte?«, wagte Alise einzuwerfen. Während Malta immer verzweifelter wurde, überkam Alise eine wachsende Begeisterung. Allmählich formte sich in ihrem Geist die herrlichste Idee, die sie je gehabt hatte. So herrlich, dass sie kaum wagte, sie auszusprechen. Ihr war nicht klar, wovor sie mehr Angst hatte: Davor, dass das Konzil ihren Vorschlag ablehnen oder davor, dass es ihn annehmen würde. Mit kaum beherrschter Stimme fragte sie: »Wie bald müssen die Drachen umgesiedelt werden?«
»Je früher, desto besser«, gab Händlerin Polsk zurück. Mit beiden Händen fuhr sie sich durchs struppige Haar, sodass es zu Berge stand wie der Zackenkamm eines Drachen. »Jeder Aufschub verschlechtert die Lage für uns alle, die Drachen nicht ausgenommen. Wenn es möglich wäre, dass sie morgen aufbrächen, würde ich das bevorzugen.«
»Nun bin ich den ganzen Weg von Bingtown hierhergereist mit dem alleinigen Ziel, diese Drachen zu erforschen und womöglich mit ihnen zu sprechen«, gab Alise zu bedenken.
»Sie werden keine große Lust auf ein Gespräch mit Euch haben«, teilte ihr Malta freudlos mit. »Selbst wenn Ihr schon vor Monaten gekommen wäret, wäre es so gewesen. Wegen ihres Ahnengedächtnisses
Weitere Kostenlose Bücher