Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Moment fiel ihr ein, dass Hest ihr genau aus diesem Grund Sedric als Anstandsdame mitgeschickt hatte – um ihren guten Namen zu schützen. Seinen guten Namen, wie ihr jetzt erst auffiel. Davor hatte Sedric sie warnen wollen. Hastig trank sie ihren Tee aus und wartete unruhig, bis Leftrin fertig war.
»Sollen wir uns noch etwas umsehen?«, bot er an, als sie die Teestube verließen. Sein Grinsen verriet, dass er mit ihrem Einverständnis rechnete.
»Ich fürchte, ich muss zu Sedric zurück und ihm unsere geänderten Pläne mitteilen. Ich glaube nicht, dass er glücklich darüber sein wird«, gab sie zurück, und die Untertreibung war ihr schmerzhaft bewusst. Schon die kurze Zeit auf Teermann war für Sedric bereits eine Qual gewesen. Wie würde er erst auf die Neuigkeit reagieren, dass sie sich freiwillig zu der Expedition gemeldet hatte, zu einer Reise, die Tage, wenn nicht Wochen dauern würde? Würde er es ihr verbieten?
Bei diesem Gedanken wurde ihr bang und eiskalt. Doch dann kam ihr ein noch schlimmerer Gedanke. Konnte er es ihr verbieten? Musste sie sein Urteil hinnehmen, wenn er sagte, dass sie ihre wilden Pläne aufgeben sollte? Was würde passieren, wenn er das tatsächlich tun würde? Immerhin hatte sie einen Vertrag unterschrieben. Ein Händler würde nicht einmal im Traum daran denken, von einem Vertrag zurückzutreten. Aber was, wenn Sedric ihr das Recht absprechen würde, so etwas zu entscheiden? Wie viel Entscheidungsgewalt musste sie an ihn abtreten? Schließlich war er ihr Begleiter, der für ihr schickliches Auftreten einzustehen hatte. Er war weder ihr Aufpasser noch ihr Vater. Und Hest hatte deutlich gesagt, dass sie über ihn verfügen sollte. Falls nötig, könnte sie Druck ausüben. Zahlte ihn Hest nicht gerade dafür? Um zu tun, was sie ihm befahl? Denn er war Hests Diener.
Und ihr Freund.
Ihr Gewissen krampfte sich zusammen. In letzter Zeit hatte sie in Sedric immer mehr einen Freund gesehen. Ihren Freund. Und sie hatte die Aufmerksamkeit und Achtung, die er ihr entgegengebracht hatte, sehr geschätzt. Als sie heute Morgen so früh aufgebrochen war, hatte sie es nicht für nötig erachtet, ihm Bescheid zu sagen. Denn als Freund würde er es verstehen. Aber würde er es auch als Angestellter ihres Mannes, als ihr Aufpasser verstehen? Hatte sie ihn gedankenlos in eine heikle Lage gebracht? Bevor sie der Versuchung zu erliegen drohte, mit dem Flusskapitän als Führer durch Cassarick zu spazieren, sagte sie: »Ich fürchte, ich muss sofort zurück. Ich muss Sedric erzählen, was ich …« Plötzlich geriet sie ins Stocken und suchte vergeblich nach Worten. Was sie beschlossen hatte? Konnte sie dieses Wort benutzen, ohne sich nachher womöglich zu blamieren, wenn Sedric ihre Entscheidung zunichtemachte? Denn auf einmal war sie überzeugt, dass er dies tun würde.
»Ich vermute, Ihr habt recht«, gab Leftrin widerstrebend zurück. »Ihr müsst eine Liste machen, was Ihr benötigt. Ich habe hier gute Bezugsquellen. Ich besorge Euch die Sachen, und wir rechnen ab, wenn wir wieder in Trehaug sind.«
»Gewiss«, erklärte sich Alise zaghaft einverstanden. Natürlich würde es mehr Ausgaben bedeuten, wenn sie ihre Reise verlängerte. Warum hatte sie daran nicht gedacht? Und wer würde das alles bezahlen? Hest. Oh, darüber würde er sich aber freuen! Auf einmal fühlte sie sich nicht mehr so entschlossen und unabhängig wie noch vor ein paar Stunden. Ihr kam der Gedanke, dass es beinahe eine Erlösung wäre, wenn Sedric es ihr verbieten würde. Sie warf einen Blick gen Himmel, nur um festzustellen, dass man diesen durch den dichten Schirm aus Blättern nicht sehen konnte. Wie viel Zeit war vergangen? Wie viele Stunden, die sie bei den Drachen hätte verbringen können, hatte sie verplempert? Das Konzil schien begierig zu sein, sie so schnell wie möglich von hier fortzubringen. Hätte sie am Ende, wenn sie von ihrer impulsiven Reise in die Regenwildnis zurückkehren würde, auch nur die Forschungsaufzeichnungen eines einzigen Tages? Sie dachte daran, wie Hest sie wegen der Zeit- und Geldverschwendung verhöhnen und zurechtweisen würde, und ihre Wangen brannten. Von nun an sollte keine Zeit mehr vergeudet werden.
Sie hatte die Zähne zusammengebissen und war mit Leftrin über die schwankenden Brücken zum Aufzug zurückgekehrt. Viel zu schnell für ihren Geschmack rauschte der Korb in die Tiefe und erzeugte ein Gefühl, als würde ihr Bauch gleich unter den Zähnen hängen. Nie zuvor hatte sie
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