Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
eine Reise stromaufwärts in unbesiedelte Wildnis, vielleicht sogar in unerforschte Regionen. Auf einer solchen Fahrt kann man in alle möglichen Gefahren geraten, ganz zu schweigen von den Unannehmlichkeiten und Entbehrungen, die sie mit sich bringt. Du bist kaum in der Lage, das durchzustehen. Du kannst dir ja noch nicht einmal vorstellen, auf was du dich da einlässt. Oder vielleicht kannst du es, aber dann sind es eben auch nur deine Vorstellungen. Von der Wirklichkeit machst du dir kein Bild. Dazu kommt das zeitliche Problem. Der Sommer dauert nicht ewig, und wir haben weder genug Kleidung dabei noch die nötigen Vorbereitungen getroffen, um uns länger in der Regenwildnis aufzuhalten. Du hast vielleicht keine ernsthaften Verpflichtungen, die dich zurückrufen, aber ich habe sehr wohl welche! Das ist lächerlich! Und von dem Angebot zurückzutreten, ist eine unendliche Blamage! Hest hat Handelspartner in der Regenwildnis. Wie sieht denn das aus, wenn seine Frau sich auf eine Vereinbarung einlässt, die sie nicht halten kann, und dann wieder davon zurücktritt? Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Während Sedrics Predigt geschah etwas Seltsames in Alise. Das innerliche Beben ließ nach, sie erstarrte. In Sedrics zornerfüllten Augen erkannte sie, was er in ihr sah: Eine verwöhnte Närrin, die sich mit einem eingebildeten Abenteuer austoben wollte, bevor sie wieder nach Hause in ihren Alltag ohne »ernsthafte Verpflichtungen« flüchtete. Die keine Ahnung von der Welt hatte, in der er und Hest sich so gut auskannten.
Vielleicht war sie das auch, aber das war nicht ihre Schuld. Man hatte ihr nie gestattet, die Erfahrung zu sammeln, die man brauchte, um unabhängig und weltgewandt zu sein. Man hatte es ihr nie erlaubt. Dieser Gedanke zischte in ihr wie geschmolzenes Eisen, das zu eiskalter Entschlossenheit aushärtet. Sie würde nicht zulassen, dass man ihr etwas »erlaubte« oder »nicht erlaubte«. Sie würde ihrem Entschluss folgen, und wenn es ihr Leben kosten würde. Denn dabei ihr Leben zu verlieren wäre bestimmt besser, als heimzukehren, wo ihr alle Träume verwehrt blieben.
Auf seine rhetorische Frage, was sie sich dabei gedacht habe, antwortete sie deshalb in vollster Aufrichtigkeit: »Ich dachte, dass ich auf diese Weise endlich die Drachen erforschen könnte, wie Hest es mir versprochen hat. Schließlich war das eine Bedingung dafür, dass ich ihn geheiratet habe, erinnerst du dich? Dass er mir gestattete, hierherzukommen und sie zu erforschen. Hätte er sein Wort gehalten, wäre ich schon vor Jahren hier gewesen und alles wäre viel einfacher gewesen. Aber da er die Bedingungen unserer Abmachung lieber ein ums andere Mal übergehen wollte, sind wir jetzt erst hier. Die einzige Möglichkeit, wie sein Versprechen noch erfüllt werden kann, ist, dass ich den Drachen flussaufwärts folge und sie unterwegs erforsche.« Da ihr die Puste ausging, musste sie innehalten.
Mit offenem Mund starrte er sie an. Sie sah, dass er Luft holte, um zu sprechen, kam ihm aber zuvor. »Ich habe eine Vereinbarung mit dem Händlerkonzil unterzeichnet. Wir werden mit Teermann stromaufwärts reisen und dafür sorgen, dass die Drachen eine neue Heimat finden. Heute Nachmittag brechen wir auf. Deshalb braucht Kapitän Leftrin von dir eine Liste mit Ausrüstungsgegenständen und Vorräten, die man uns besorgen muss. Die Kosten werde ich abrechnen, wenn wir zurück in Trehaug sind. Für die Zeit auf dem Schiff bekomme ich natürlich einen Lohn, sodass ich die Schuld begleichen kann. Und selbstverständlich rede ich mit ihm über die Unterbringung, damit wir es beide ein bisschen bequemer haben während der Fahrt.«
Die letzte Bemerkung machte sie ihm als Friedensangebot und hoffte, dass er sich darauf konzentrieren und den ganzen Rest vergessen würde. Es funktionierte nicht.
»Alise, das ist verrückt! Wir sind nicht vorbereitet auf …«
»Und werden es auch nie sein, wenn du dich nicht sofort ans Werk machst und diese Liste schreibst! Das ist doch genau die Arbeit, die du auch für Hest erledigst, oder nicht? Und hat er dir nicht aufgetragen, genau dies für mich zu tun auf dieser Reise? Also tu es.«
Dann war sie unvermittelt aufgestanden und davongegangen. Einfach so. Es hatte ihr einen Schock versetzt, dass er tatsächlich getan hatte, was sie ihn geheißen hatte. Seither hatte sie ein ungutes Gefühl. Bisher war sie ihm erfolgreich aus dem Weg gegangen, was auf dem kleinen Schiff nicht leicht war. Leftrin hatte sich
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