Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
etwas Vergleichbares empfunden. Leftrin hatte die Angewohnheit, zu schlendern und mit jedem Bekannten zu plaudern, der ihm begegnete. Auf ihrem Weg zum Hafen musste sie ungefähr ein Dutzend Mal voller Ungeduld neben ihm stehen bleiben, während er mit jemandem sprach.
Er stellte sie jedem seiner Gesprächspartner als »die Drachenexpertin aus Bingtown, die die Drachen flussaufwärts begleiten wird« vor. Vor Kurzem hätte sie dieser Titel noch mit Stolz erfüllt, doch jetzt versetzte er sie in Panik. Ihr Unbehagen war vollkommen, als sie bei Teermann ankam, um festzustellen, dass Sedric gar nicht an Bord war.
Hennesey war damit beschäftigt, Kisten und Fässer an Bord zu verstauen. Ihr Anblick schien ihn zu überraschen. »Nun, wir dachten, Ihr würdet ausschlafen. Dieser Sedric meinte, wir sollten Euch Bescheid sagen, dass er in die Stadt gegangen ist, um ›geziemende Unterkünfte‹ für Euch zu finden.« Die Art, wie der Maat Sedrics Sprechweise nachahmte, machte ihr deutlich, was die Mannschaft von Sedrics aristokratischem Gehabe und seiner Mäkelei hielt.
Eine Weile blieb sie an Deck und sah mit Staunen zu, wie viel die Mannschaft in Teermanns Frachträumen unterbrachte. Dann ging sie in die Kapitänskajüte und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, hier länger als eine Woche, womöglich sogar länger als einen Monat zu leben. Bisher hatte sie den Raum als irgendwie urig und abenteuerlich empfunden, aber der Gedanke, hier länger zu hausen, hatte plötzlich etwas Beklemmendes. Unter einem Vorwand steckte sie den Kopf durch die Tür des Mannschaftsraums und prallte sogleich zurück. Nein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Sedric dort noch länger aushalten konnte. Sie rechnete fest damit, dass er gegen ihre Teilnahme an der Expedition Einspruch erheben würde. Sie ging wieder an Deck und sah mit bangem Herzen flussaufwärts. Mehrere Male versuchte Leftrin, sie nach ihren Wünschen zu fragen. Als sie ungeduldig wissen wollte, wann sie die Drachen sehen könnte, erklärte er ihr, dass man das Gelände über den Fluss in etwas weniger als einer Stunde erreichte, etwas länger, wenn sie lieber den Weg über die Brücken und Aufzüge der Stadt nehmen wollte. Sie lehnte dankend ab und zwang sich zu etwas Geduld und Haltung.
Sie erspähte Sedric noch ehe dieser sie erblickte. Ihr Freund schritt den Anleger entlang, und sein sonst so hübsches Gesicht war grimmig verzerrt. Als er aufsah und sie auf dem Deckshaus erblickte, nahm er einen tiefen Atemzug und hielt dann die Luft an. Dann stieg er an Bord und eilte unverzüglich zu ihr. Ohne zu grüßen, fragte er: »Was haben diese lächerlichen Gerüchte zu bedeuten, die man überall hört? Ich wollte uns Zimmer mieten, doch die Hausherrin fragte, wozu ich die bräuchte, da die Dame aus Bingtown, die die Drachen studiert, doch angeblich noch heute auf Teermann flussaufwärts weiterreist?«
Mit Entsetzen stellte Alise fest, dass sie zitterte. Hest hatte sich zwar stets auf seine süffisante Art über sie lustig gemacht, aber er hatte nie die Stimme gegen sie erhoben. In all den Jahren, die sie Sedric inzwischen kannte, hatte sie ihn noch nie so streng reden und die Wut in seinen Worten brodeln hören. Krampfhaft faltete sie die Hände im Schoß und zwang sich, ihre Stimme ruhig zu halten. »Es tut mir leid, aber ja, ich habe mich freiwillig gemeldet, die Expedition zu begleiten. Sieh, als ich mit Kapitän Leftrin zu einer Versammlung von Cassaricks Händlerkonzil gegangen bin, erfuhr ich, dass sie alle Drachen von hier weg und weiter stromaufwärts bringen wollen. Niemand weiß, wo man sie am Ende ansiedeln wird, doch das Konzil ist nicht davon abzubringen, sie sofort wegzuschaffen. Malta, die Elderlingsfrau, war auch da und war sehr bedrückt, weil sie die Drachen nicht begleiten kann, doch als ich meinte, dass ich es tun könnte, war sie …«
»Unmöglich«, schnitt er ihren Wortschwall ab. Er war hochrot im Gesicht. »Ich kann nicht glauben, was du mir da erzählst! Ich kann nicht glauben, was du getan hast! Dass du das Schiff ohne mein Wissen verlassen und mit diesem Mann davongezogen bist, dass du dich in die Politik der Regenwildnis eingemischt und Angebote gemacht hast, die du nicht einlösen kannst! Du kannst nicht einfach auf eine verrückte Expedition mit unbestimmtem Ziel aufbrechen, deren Dauer noch nicht einmal absehbar ist. Alise, was denkst du dir denn bloß dabei? Das ist kein Spiel, in dem man die Abenteurerin nur mimt. Hier geht es um
Weitere Kostenlose Bücher