Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
dass Hest nicht fürchten musste, sie an einen anderen zu verlieren. Auch wenn sie mit ihrem Ehemann nicht glücklich war, war sie doch viel zu gehemmt und wohlerzogen, um an eine Affäre auch nur zu denken. Sollte sie ruhig ein wenig mit dem Kapitän tändeln. Sollte sie ruhig glauben, sie wäre eine Frau von Welt auf dieser trostlosen Reise. Dennoch war es Sedric schleierhaft, weshalb sie ausgerechnet mit einem alten Walross wie Leftrin schöntun wollte. Er war doch nicht im Mindesten mit dem eleganten Hest zu vergleichen.
Beim Gedanken an Hest verdüsterte sich seine Stimmung. Wo war Hest jetzt, was tat er? Wer saß mit ihm am Tisch und lauschte seinen witzigen Ausführungen? Welcher exotische Hafen hatte ihn angelockt, welche ausgefallenen und seltenen Waren hatte er bereits eingekauft? Für einen Moment schloss er die Augen und sah Hest ganz deutlich vor sich, wie er nach einem erlesenen Mahl in einem erstklassigen Etablissement seine Pfeife stopfte. Würde Hest auch nur einen Gedanken an die Frage verschwenden, was Sedric auf seiner Fahrt den mückenverseuchten Fluss hinauf ertragen musste? Wahrscheinlich tat er das, und wahrscheinlich kicherte er vor Vergnügen, wenn er an Sedric dachte. Und noch schmerzhafter war, dass er seine Belustigung mit Wollom und Jaff und dem hinterlistigen Redding Cope teilen würde. Sedric stellte sich vor, wie Cope ihn nachahmte: »Dies ist Sedric, der sich gerade der Moskitos erfreut.« Und dann würde dieser kleine, pummelige, erbärmliche Wicht herumhüpfen, sich selbst Ohrfeigen versetzen und damit ein Lachen von Hest einheimsen. Allein schon die Vorstellung war unerträglich. Sedric ertappte sich, dass er mit den Zähnen knirschte, und bemühte sich, die Gesichtszüge zu entspannen. Diese Irrfahrt war Hests Werk und eine völlig unangemessene Strafe dafür, dass Sedric seine Meinung gesagt hatte. Dabei hatte er lediglich gewollt, dass Hest ein wenig freundlicher zu Alise war. Und als Dank für seine Bemühungen war er nicht nur von Hest verbannt, sondern nun auch noch von Alise entführt worden und musste sie noch tiefer in diese gottverlassene Wildnis begleiten.
Ohne Sedrics Unbehagen zu bemerken, plauderte Alise mit dem Ziegenbock zu ihrer Linken. Kurz drangen ihre Worte durch Sedrics schweifende Gedanken. »Seht sie euch an. Sie scheint die Sonne regelrecht aufzusaugen und aus sich selbst heraus zu leuchten. Sie ist herrlich!«
Sedric gab einen Laut der Zustimmung von sich und ließ sie weiterplappern. Der Strand hatte die Bezeichnung nicht verdient. Er war nicht mehr als ein festgetrampelter und von der Sonne getrockneter Abhang aus Schlamm, der zum Wasser hin abfiel. Bald müsste er Alise dorthin folgen und Notizen machen. Zwischen Drachenmist und Treibgut herumstolpern. Und dabei sehr wahrscheinlich seine Stiefel ruinieren. Sobald die Männer fertig waren mit Vertäuen, oder was immer sie taten, würde Alise an Land gehen wollen. Dann sollte er besser in sein »Zimmer« gehen und die Werkzeuge heraussuchen.
»Ja. Ja, das habe ich! Du bist unheimlich prachtvoll!«, rief Alise.
Sedric schlug die Augen auf. Alise wirkte vor Freude wie entrückt. Unter den unzähligen Sommersprossen röteten sich ihre Wangen. Sie fasste sich an die Brust, als wolle sie verhindern, dass ihr wild schlagendes Herz heraussprang. Sie wandte sich ihm zu, und ihr Blick verriet, dass sie ihren vorherigen Streit in der Aufregung vollkommen vergessen hatte. Völlig gebannt rief sie: »Sedric, sie hat mit mir gesprochen! Die blaue Drachin! Sie hat etwas zu mir gesagt!«
Er ließ den Blick über die echsenartigen Kreaturen schweifen, die auf dem harten Lehm lagen oder herumtrotteten. »Welche blaue Drachin?«, fragte er schließlich.
»Die Königin. Die große blaue Königin.« Sie sprach ganz außer Atem. Dann rief sie wieder: »Darf ich an Land kommen und mit dir sprechen?«
»Königin? Haben Drachen Könige und Königinnen?«
»Das große blaue Weibchen«, sagte sie hörbar ungeduldig. »Die da drüben. Neben dem Mädchen mit dem Besen.«
»Aha. Und woher weißt du, dass sie deren Königin ist?«
»Nicht deren Königin. Eine Königin. Alle Drachenweibchen sind Königinnen. So wie Katzen Königinnen sind. Und jetzt sei still, bitte! Ich höre sie nicht, wenn du redest!«
Die Kreatur gab ein Geräusch von sich, das ihn an ein verstimmtes Blasinstrument erinnerte. Doch anscheinend war Alise davon bezaubert. Als die Drachin ausgemuht hatte, schien auch Leftrin in den Bann geschlagen zu sein.
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