Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich darauf, das Pferd an den schlimmsten Schlaglöchern vorbeizumanövrieren. Bingtown hatte zunächst all seine Anstrengungen darauf gerichtet, die abgebrannten und beschädigten Gebäude wiederaufzubauen, anstatt die Straßen zu reparieren. Würde man damit beginnen, musste man ein Vierteljahr lang erst einmal Schlaglöcher ausbessern. Sedric schüttelte den Kopf. In letzter Zeit gewann er den Eindruck, als würde die ursprüngliche Stadt allmählich dahinschwinden. Einst hatte es ihn mit Stolz erfüllt, der Sohn eines Händlers von Bingtown zu sein, das war nun zerstört, getrübt, verändert.
In der Zeit nach dem Überfall der Chalcedaner waren sich die unterschiedlichen Fraktionen in Bingtown gegenseitig an die Gurgel gegangen, um alte Rechnungen zu begleichen. Nachdem diese Streitigkeiten endlich beigelegt waren, hatten die Wiederaufbauarbeiten langsam und zaghaft begonnen. Inzwischen war die Lage etwas besser, denn das Händlerkonzil hatte endlich wieder die Regierung übernommen und sorgte dafür, dass die Gesetze eingehalten wurden. Jetzt fühlten die Leute sich wieder sicher genug, um sich an den Wiederaufbau zu machen, und da mit einigen Einschränkungen auch wieder Handel getrieben wurde, konnten etliche es sich auch leisten. Doch die neuen Gebäude, die dabei entstanden, schienen im Vergleich zu den alten ohne eigenen Charakter, denn sie wurden in großer Hast und ohne gründliche Überlegung hochgezogen. Viele sahen einander sehr ähnlich. Und Sedric wusste noch immer nicht, was er von der Entscheidung des Konzils halten sollte, vielen Nichthändlern beim Wiederaufbau Mitspracherecht und Einfluss zu gewähren. Inzwischen mischten sich ehemalige Sklaven, Fischer und Zugezogene unter die Händler. Alles veränderte sich viel zu schnell, und Bingtown würde nie wieder das sein, was es einmal gewesen war. Gestern Abend, als Sedric seinem Vater sein Leid darüber geklagt hatte, hatte dieser sich überhaupt nicht verständnisvoll gezeigt.
»Sei doch kein Narr, Sedric. Du machst ein solches Drama aus diesen Dingen. Bingtown wird schon wieder. Aber es wird nie wieder das werden, was es früher einmal war, denn Bingtown war noch nie das, was es früher einmal war. Bingtown lebt von Veränderungen, Bingtown ist Veränderung. Und diejenigen, die selbst in der Lage sind, sich zu verändern, werden auch in unserer Stadt Erfolg haben. Ein bisschen Wandel hat noch niemandem geschadet. Wo immer etwas Neues entsteht, findet der kluge Mann einen Profit. Darauf solltest du deine Gedanken richten. Wie kannst du erreichen, dass dieser Wandel deiner Familie nützt?« Sein Vater hatte die kurze Pfeife aus dem Mund genommen und damit auf ihn gezeigt. »Hast du schon mal daran gedacht, dass dir ein bisschen Veränderung guttun würde? Dass du für Hest als Sekretär und rechte Hand arbeitest, das ist schon mal gar nicht schlecht. Dadurch lernst du viele seiner Handelspartner kennen. Jetzt musst du dir nur noch überlegen, wie du diese Verbindungen nutzen kannst. Du kannst nicht dein ganzes Leben lang die zweite Geige spielen, auch wenn ihr gut befreundet seid und du ein angenehmes Dasein führen kannst. Du solltest das Beste daraus machen, denn all die Möglichkeiten, die ich dir geschaffen habe, hast du ja in den Wind geschlagen.«
Beim Gedanken an das Gespräch musste Sedric seufzen. Am Ende sagte ihm sein Vater jedes Mal, was für ein Reinfall er als Sohn war.
»Seufzt du wegen mir, mein Freund?« Hest lachte nachsichtig. »Seddy, du denkst immer viel zu schlecht von mir, stimmt’s? Du befürchtest, dass ich das bedauernswerte Frauenzimmer angelogen habe, dass ich sie mit süßen Worten und meinem charmanten Lächeln um den Finger gewickelt habe, nicht wahr?«
»Hast du das etwa nicht gemacht?«, fragte Sedric streng. Er warf sich ohnehin schon vor, dass er Alise seinem Freund nahegebracht hatte. Dass Hest sich über seine Skrupel lustig machte, traf ihn empfindlich.
»Kein bisschen. Du machst dir völlig umsonst Vorwürfe. Es ist alles bestens, mein Freund!« Hest klopfte ihm freundlich auf die Schultern und ließ seine Hand darauf liegen, als er sich zu ihm hinüberbeugte und ihm versicherte: »Ihr ist die Art unseres Arrangements vollkommen bewusst. Natürlich war es das nicht von Anfang an. Erst hat sie mich so empfindlich getroffen, dass ich beinahe meine Fassung verloren hätte, denn sie hat mich dreist gefragt, ob ich ihr nur den Hof mache, um sie zu verspotten,
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