Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
überhaupt auf einen solchen Gedanken kommst?«
Sie zitterte. Konnte man das alles so einfach vom Tisch wischen? Sollte sie sich so sehr geirrt haben? »Auch du bist ein Mann«, sagte sie mit bebender Stimme. »Mit Bedürfnissen. Dennoch kommst du nur selten zu mir. Du verschmähst mich.«
»Ich habe viel zu tun, Alise. Und die Dinge, um die ich mich kümmern muss, sind … wichtiger als deine fleischlichen Gelüste. Müssen wir in Sedrics Anwesenheit darüber reden? Wenn du auf meine Gefühle schon keine Rücksicht nehmen willst, dann verschone wenigstens ihn.«
»Du musst jemand anderen haben. Das weiß ich!«, brach es wie ein verzerrter Schrei aus ihr hervor.
»Du weißt gar nichts«, fuhr Hest sie angewidert an. »Aber du sollst es wissen. Sedric. Da Alise dich schon in diesen hässlichen Streit hineingezogen hat, möchte ich die Gelegenheit nutzen. Reiß dich zusammen und erzähle ihr die Wahrheit.« Abrupt fuhr Hest zu ihr herum. »Sedric wirst du doch glauben, oder? Auch wenn du deinen dir angetrauten Gatten für einen Ehebrecher hältst.«
Sie sah Sedric in die Augen. Er war blass, sein Mund stand offen, und er keuchte. Was hatte sie nur geritten, dass sie in seiner Gegenwart derlei Dinge ausgesprochen hatte? Was würde er jetzt von ihr denken? Seit jeher war er ihr Freund gewesen. Würde sie wenigstens diese Freundschaft erhalten können? »Er hat mich nie belogen«, sagte sie. »Ihm werde ich glauben.«
»Alise, ich …«
»Halt, Sedric, sage nichts, bevor du nicht die Fragen kennst.« Hest legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich mit nachdenklichem Blick nach vorn. Er sprach in einem ruhigen Tonfall, als würde er Vertragsbedingungen aufzählen. »Antworte meiner Frau wahrheitsgemäß und vollständig. Du bist während der Arbeitsstunden beinahe ständig bei mir und manchmal auch bis spät in die Nacht. Wenn jemand meine Gewohnheiten kennt, dann bist du es. Sieh Alise an und sage die Wahrheit: Gibt es eine andere Frau in meinem Leben?«
»Ich … das heißt, nein. Nein.«
»Habe ich jemals, ob nun hier in Bingtown oder auf unseren Handelsreisen, Interesse an irgendeiner Frau gezeigt?«
Sedrics Stimme wurde etwas gefestigter. »Nein. Niemals.«
»Da hast du’s. Siehst du?« Hest bediente sich vom Früchtebrot. »Deine schmutzigen Anschuldigungen waren vollkommen unbegründet.«
»Sedric?«, flehte sie ihren Freund beinahe an. Sie war sich so sicher gewesen. »Du sagst mir wirklich die Wahrheit?«
Sedric holte keuchend Luft. »Es gibt keine andere Frau in Hests Leben, Alise. Keine einzige.«
Betreten blickte er auf seine Hände hinab, und sie entdeckte den Ring an seiner Hand, den letzte Nacht noch Hest getragen hatte. Vor Scham wurde ihr ganz heiß. »Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Hest nahm an, dies wäre an ihn gerichtet gewesen. »Es tut dir leid? Du beleidigst und demütigst mich vor Sedric, und du bekommst nur ein mickriges ›Tut mir leid‹ heraus? Ich denke, da wäre wesentlich mehr angebracht, Alise.«
Sie stand auf, fühlte sich aber wacklig auf den Beinen. Auf einmal wollte sie nur noch weit weg von diesem Zimmer und diesem schrecklichen Mann sein, der es irgendwie geschafft hatte, über ihr Leben zu bestimmen. Sie wollte nichts anderes, als sich in der Abgeschiedenheit ihrer Studierstube in eine alte Schriftrolle zu vertiefen und sich in einer anderen Zeit und Welt zu verlieren. »Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.«
»Nun. Nach einer so schweren Beleidigung gibt es auch nicht viel zu sagen. Du hast dich zwar entschuldigt, aber damit ist die Sache nicht wiedergutgemacht.«
»Es tut mir leid«, sagte sie erneut und … gab sich ihm geschlagen. »Es tut mir leid, dass ich so etwas gesagt habe.«
»Mir tut es auch leid. Nun wollen wir die Sache damit beenden. Mache mir nur nie wieder solche Vorwürfe. Das ist deiner nicht würdig. Es ist unser beider nicht würdig, solche Gespräche zu führen.«
»Nein, ich verspreche es.« Beinahe hätte sie den Stuhl umgestoßen, als sie sich umwandte und zur Tür eilte.
»Ich werde dich beim Wort nehmen!«, rief ihr Hest hinterher.
»Ich verspreche es«, wiederholte sie stumpf und rannte hinaus.
Es wurde Nacht. Selbst im Sommer schienen die Tage kurz zu sein. Das gesamte Tal war von hoch aufragenden Bäumen bedeckt, nur unterbrochen von dem grauen Fluss, der eine Schneise in das Grün schlug. Tageslicht drang nur nach unten, wenn die Sonne hoch genug stand, um ihre Strahlen auf das Wasser oder die schmalen
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