Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Uferstreifen zu schicken, die von einer Wand aus vor sich hinbrütenden Baumstämmen gesäumt wurden. Sobald die Sonne diesen Zenit überschritten hatte, brach der lange Abend an. Nur kurz waren die Stunden im Tageslicht, während der Großteil des Lebens von Dämmerung beherrscht wurde. Seit dem Sommer, da sie aus ihrer Hülle geschlüpft war, waren vier Jahre vergangen. Vier Jahre voll enttäuschter Hoffnungen, karger Nahrung und Vernachlässigung. Vier viel zu schattige Sommer, vier Winter mit regnerischen grauen Tagen. Vier Jahre, in denen sie nichts getan hatte, außer zu essen und zu schlafen. Viel zu viele Stunden hatte sie verschlafen. Doch anstatt Erholung, empfand Sintara unablässige Müdigkeit. Dieses im Dämmerlicht liegende Sumpfland war die Heimat von Molchen, nicht von Drachen. Drachen, dachte sie, waren für gleißende Sonnenstrahlen, trockene Wüsten und lange heiße Tage geschaffen. Und sie waren fürs Fliegen gemacht. Wie sehr sie sich danach sehnte, zu fliegen. Sich aus dem Morast zu erheben und der Enge des Flussufers zu entkommen.
Sie bog den Hals nach hinten, um die Schuppen hinter ihrem Flügel von getrocknetem Schlamm zu befreien. Dann breitete sie die verkrüppelten Schwingen aus und ließ sie einige Male gegen ihren Leib klatschen, um das lästige Jucken zu vertreiben. Der Großteil des Morasts rieselte wie Sand an ihr herab. Doch fühlte sie sich nur wenig besser. Vielmehr sehnte sie sich nach einem Bad in einem warmen, ruhigen Tümpel. Anschließend würde sie sich in der Sonne trocknen und die Schuppen im harten Sand glänzend scheuern. Doch in ihrer gegenwärtigen Lage war ihr nichts von all dem möglich. Von diesen Dingen wusste sie nur durch die traumhaften Erinnerungen ihrer Vorfahren.
Sie verbrachte viel Zeit in diesen Träumen, und alles darin erschien ihr wie Hohn. Sie träumte vom Fliegen, vom Jagen, von der Paarung. Und sie erinnerte sich an eine Stadt mit einem Brunnen, aus dem flüssiges Silber sprudelte, das den Durst eines Drachen auf eine Weise stillen konnte, wie es kein Wasser vermochte. Viele Erinnerungen kreisten um das Verschlingen warmen, frisch erlegten Fleisches. Auch eine Paarung im Flug war ihr im Gedächtnis, und wie sie in einer sandigen Bucht die Eier vergrub. Unzählige Erinnerungen, die Sintara mit verzweifelter Wut erfüllten. Trotz allem war ihr bewusst, dass ihr Erinnerungsschatz nicht vollständig war. Sie wusste gerade genug, um der riesigen Lücken gewahr zu werden, und diese Erkenntnis trieb sie beinahe in den Wahnsinn. Doch wusste sie nicht genug, um das fehlende Wissen zu rekonstruieren. Der Gipfel der Grausamkeit war, dass die Erinnerungen ihr beständig die eigene körperliche Unzulänglichkeit vor Augen führten.
Der Erfahrungsschatz hätte ihr Erbe sein sollen, doch es blieb ihr verwehrt. Nach Art ihres Volkes hatten bereits die Seeschlangen Kenntnisse über Wanderrouten, warme Strömungen und Fischvorkommen, ebenso über die Versammlungsplätze, Lieder und gesellschaftliche Bande. Wenn sich eine Seeschlange in ihren Kokon zurückzog, verblassten diese Erinnerungen, und zum Zeitpunkt des Schlüpfens hatte der Drache nur noch vage Bilder seiner Existenz als Meeresbewohner im Bewusstsein. Diese Erinnerungen wurden jedoch ersetzt von dem reichhaltigen Wissen vieler Drachengenerationen. Dazu gehörte etwa, wie man sich im Flug an den Sternen orientierte, wo zu welcher Jahreszeit die besten Jagdgründe zu finden waren, wie die traditionellen Paarungskämpfe abliefen und welche Strände am besten zum Legen der Eier geeignet waren. Darüber hinaus vermochte jeder Drache auf die lange zurückliegenden persönlichen Erlebnisse seiner Vorfahren zurückzugreifen. Diese Erinnerungen erhielt er nicht nur von dem sich wandelnden Leib der Seeschlange, sondern auch vom Speichel derjenigen Drachen, die beim Bau der Hülle halfen. Als Sintara und ihre Gefährten sich eingesponnen hatten, hatte es allerdings kaum Drachenspeichel gegeben. Vielleicht fehlte ihnen dieser jetzt. Vielleicht waren deshalb einige von ihnen so einfältig wie Rinder.
Die Sonne musste den unsichtbaren Horizont erreicht haben, denn allmählich zeigten sich die Sterne in dem schmalen Himmelsband über dem Fluss. Sie sah zu dem wenigen empor, was vom Nachthimmel zu sehen war, und dachte dabei, wie treffend er ihre eingeschränkte und verkrüppelte Existenz widerspiegelte. Das morastige, vom unermesslichen Wald eingefasste Flussufer war alles, was sie seit ihrem Schlüpfen kennengelernt
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