Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Drachen drückten sich nicht eng aneinander wie Beutetiere.
Es sei denn, sie waren verkrüppelt, schwach, hilfsbedürftig und nutzlos und kaum mehr als sich bewegende Fleischmassen. Sie zwängte sich zwischen die schlafenden Kreaturen. Dabei trat sie auf Fentes Schwanz. Die kleine grüne Drachin war ein garstiges Vieh und schnappte sofort nach ihr. Doch der Biss ging ins Leere, denn Fente war zwar bösartig, aber nicht dumm. Sie wusste sehr wohl, dass sie nie wieder jemanden beißen würde, wenn sie Sintara auch nur einmal ernsthaft angriff. »Du liegst auf meinem Platz«, knurrte Sintara bedrohlich, und Fente zog ihren Schwanz ein.
»Du bist tollpatschig. Oder blind«, fauchte Fente zurück, aber nur ganz leise, als ob sie nicht wollte, dass Sintara es verstand. Als beiläufige Rache stieß Sintara die kleine Drachin so, dass sie gegen Ranculos prallte. Der Rote war bereits eingeschlafen. Ohne auch nur die silbernen Augen aufzuschlagen, gab er Fente einen strafenden Tritt und wälzte seinen schweren Leib herum.
»Was hast du getrieben?«, fragte Sestican, der zweitgrößte männliche Blaudrache, als sie sich an ihn schmiegte. Hier war ihr Platz. Stets schlief sie zwischen ihm und dem mürrischen Mercor. Allerdings hieß das nicht, dass zwischen ihnen eine Freundschaft oder auch nur ein Bündnis bestand. Sie hatte sich den Platz lediglich ausgesucht, weil die beiden zu den größten Männchen gehörten, und zwischen ihnen zu schlafen, war äußerst klug.
Er durfte ihr auch Fragen stellen, war er doch einer der wenigen, mit dem man sich überhaupt vernünftig unterhalten konnte. »Ich habe den Himmel betrachtet.«
»Und geträumt«, nahm er an.
»Und gehasst«, berichtigte sie ihn.
»In diesem Leben kommt das aufs Gleiche raus.«
»Wenn dies mein letztes Leben sein soll, wenn all meine Erinnerungen mit mir sterben sollen, warum muss dann alles so trostlos sein?«
»Wenn du nicht gleich mit deinem sinnlosen Geschwätz aufhörst und mich in Ruhe schlafen lässt, sorge ich dafür, dass dein letztes Leben schneller endet, als du dachtest.« Das kam von Kalo. Seine blauschwarzen Schuppen machten ihn im Dunkeln beinahe unsichtbar. Sintara spürte, wie die kleinen Giftdrüsen in ihrer Kehle anschwollen, so groß war ihr Hass, doch sie blieb ruhig. Er war der größte von ihnen. Und der brutalste. Wenn sie genug Gift hätte erzeugen können, um ihm zu schaden, hätte sie es ihm wahrscheinlich ins Gesicht gespien, ohne sich um die Folgen zu kümmern. Selbst an Tagen, an denen sie gut gefressen hatte, produzierten ihre Drüsen gerade einmal genug Gift, um einen großen Fisch zu lähmen. Würde sie Kalo anspeien, würde dieser sie mit seinen Zähnen zerreißen und verschlingen. Es war zwecklos. Genauso zwecklos wie ihre Wut, die Wut einer wehrlosen und nichtswürdigen Drachin. Sie wickelte den Schwanz um ihren Leib und presste die Flügelstummel an den Rücken. Dann schloss sie die Augen.
Nur noch fünfzehn waren übrig. Sie erinnerte sich zurück. Mehr als einhundert Schlangen hatten sich an der Flussmündung versammelt und waren den Strom hinaufgeschwommen. Wie viele von ihnen hatten es in den Kokon geschafft? Weniger als achtzig. Sintara wusste nicht, wie viele schließlich geschlüpft waren und den ersten Tag überlebt hatten. Inzwischen spielte das auch kaum eine Rolle mehr. Einige waren von Krankheiten dahingerafft worden, andere waren einer Springflut zum Opfer gefallen. Vor der Seuche hatte sie am meisten Angst gehabt. Denn sie hatte sich an nichts Derartiges erinnern können, und die anderen, die sprechen konnten, hatten sich ebenfalls verwirrt darüber gezeigt. Es hatte damit angefangen, dass die Drachen nachts im Schlaf von trockenem Husten geplagt worden waren. Dieses Husten hatte nicht nachgelassen und sich ausgebreitet, bis fast alle Drachen mehr oder weniger schwer davon betroffen waren.
Dann hatte einer der kleineren Drachen sie alle mit seinem heiseren Kreischen geweckt. Die Läufe des orangefarbenen Drachen waren lediglich Stummel und seine Flügel völlig verkümmert. Falls er einen Namen gehabt hatte, vermochte Sintara sich nicht mehr an ihn zu erinnern. Er hatte versucht, sich mit der Pranke die von Schleim verkrusteten Augen zu reiben. Doch seine Vorderläufe waren zu kurz gewesen. Mit jedem panischen Kreischen, das er ausstieß, verspritzte er dicke Schleimfäden. Angewidert hatten die anderen Abstand von ihm genommen. Am frühen Vormittag war er gestorben, und ein paar Augenblicke später waren
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